Orientalistin Alexandra David-Néel

"Alle meine Reisen waren Traumverwirklichungen"

Die französische Orientalistin Alexandra David-Néel (1868 - 1969), fotografiert in tibetischer Kleidung.
Die französische Orientalistin Alexandra David-Néel. © dpa / Mary Evans Picture Library
Von Anette Schneider · 24.10.2018
Eigentlich hätte Alexandra David-Néel schon mit 17 Jahren heiraten sollen. Stattdessen schrieb sie feministisch-anarchistische Texte und wurde als Forschungsreisende berühmt. Vor 150 Jahren wurde sie geboren.
"Mein Hauptansporn zur Reise nach Lhasa war ganz einfach das strenge, unsinnige Verbot, Zentraltibet zu betreten", schreibt Alexandra David-Néel in ihrem Buch "Mein Weg durch Himmel und Höllen", das 1927 erschien und die Forschungsreisende weltberühmt machte.
Sie ignorierte das Verbot der britischen Kolonialmacht, verkleidete sich als Bettlerin und zog los: Mit ihrem ständigen Begleiter, dem jungen Lama Yongden, bezwang sie über 6.000 Meter hohe Pässe.
"Wir sahen eine unendliche Schneefläche, ... fern zu unserer Linken durch blaugrüne Gletschermauern begrenzt, hinter denen immer wieder neue Gipfel in ewiger, makelloser Weiße sich erhoben."
Sie geriet in Schneestürme, wäre fast erfroren und verhungert - und erreichte 1924 als erste weiße Frau Lhasa.
"Ich betrachte die Tage, an denen ich mit schwer beladenem Rücken als eine der zahllosen tibetischen bettelnden Pilgerinnen das Land durchwanderte, als die schönsten meines Lebens."

Flucht in Abenteuerliteratur

Alexandra David-Néel, am 24. Oktober 1868 bei Paris geboren, hatte schon früh ihren eigenen Kopf: Vor einem freudlosen Elternhaus und einer streng katholischen Mutter flüchtete sie in Abenteuerliteratur.
"Ich träumte von wilden Bergen, von riesigen verlassenen Steppen und unzugänglichen Gletscherlandschaften. Mehrfach lief sie von zu Hause fort, verweigerte die Heiratspläne ihrer Mutter und fand in einem Freund ihres Vaters einen Mentor: Der Anarchist Elisée Reclus machte sie bekannt mit linken Ideen und ermunterte die knapp 20-Jährige zu ihrer feministischen Streitschrift "Für das Leben", in der sie persönliche Freiheit für alle forderte.
"Jeder Moment, in dem der Mensch sich einem fremden Willen unterwirft, ist ein Moment, der von seinem Leben abgeschnitten ist."
Sie las griechische Philosophie, entdeckte für sich den Buddhismus, studierte an der Sorbonne Sanskrit und Mandarin und bereiste Dank eines kleinen Erbes Indien und Ceylon.
Jan-Ulrich Sobisch, Tibetologe an der Ruhruniversität Bochum:
"Sie hat etwas gefunden, wo sie autonom agieren kann. Wo sie sich von ihren Zwängen befreien kann. Das war das, was sie am Buddhismus fasziniert hat. Und ihr Bestehen darauf, die Deutungshoheit zu haben. Das ist ihr starker, antiklerikaler Charakter."

In Asien Fuß gefasst

Einige Jahre verdiente sie ihr Geld als Opernsängerin in Hanoi und Tunis, wo sie ab 1900 auch das Stadttheater leitete und bald heiratete. 1911 reiste die mittlerweile 42-Jährige erneut nach Asien. Ein gutes Jahr wollte sie unterwegs sein. Es wurden vierzehn. Jahre, in denen sie zu einer international anerkannten Forscherin, Übersetzerin und tibetisch-buddhistischen Gelehrten wurde.
"Was man an ihr erkennen kann: Dass sie sehr bald, als sie in Asien Fuß gefasst hat, sämtlichen Kontakt mit den Klerikalen, mit den Missionaren, mit den Frauen der Missionare oder der Botschafter und so weiter, sämtlichen Kontakt versucht zu vermeiden. Sie findet das richtiggehend ekelig, deren Verhalten. Ihr Interesse war eben, authentisch zu erfahren, wie die tibetische und die Himalaja-Welt tatsächlich ist."
"Meine Forschungen erschlossen mir eine Welt, die an Phantastik noch übertraf, was ich an Landschaften erschaut hatte. Ich denke besonders an die mystischen Einsiedler."
Zwei Jahre lang ging sie bei einem von ihnen in Klausur. Sie durchstreifte die Wüste Gobi und lebte mehrere Jahre in einem mongolisch-buddhistischen Kloster, wo sie alte Handschriften übersetzte und als erste Europäerin zum Lama ernannt wurde.

Reisen als Traumverwirklichung

Und 1921 machte sie sich auf den Weg nach Lhasa.
"Alle meine Reisen, besonders die in unerforschte und ‚verbotene‘ Regionen, waren - beinahe zwanghaft betriebene - Traumverwirklichungen."
1925 kehrte sie zurück nach Frankreich. Längst war in Europa eine neue Epoche angebrochen, in der sie nun Vorträge über Tibet hielt, Artikel und Reisebücher schrieb. 1937 reiste sie noch einmal für neun Jahre nach Zentralasien. Danach entstanden weitere Bücher, die - wie schon ihre ersten - auch Kritik auslösten.
"Viele der Dinge, die sie beschreibt, als ob sie sie selbst erlebt hätte, sind offensichtlich Dinge, von denen sie gehört hat, und von denen sie gelesen hat. Das war ihr künstlerischer Trick, ihre Entscheidung als Autorin, eine Stimme zu gewinnen in der Vermittlung dessen, was ihr wichtig war."
1969 starb die Forschungsreisende im Alter von fast 101 Jahren. Kurz zuvor soll sie noch einmal ihren Reisepass verlängert haben. Denn, so hatte sie einst geschrieben:
"Leben bedeutet für mich unterwegs sein."
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