Organisierte Kriminalität

Warum die Polizei sich so schwertut

29:56 Minuten
Eine Illustration zeigt Hände, die Geldbündel auf ein Förderband legen, das durch eine Maschine ein Haus herstellt.
Bargeld spielt für die Organisierte Kriminalität eine enorme Rolle, zum Beispiel auch beim Immobilienkauf. © imago images / Ikon Images / Marcus Butt
Von Peter Podjavorsek · 17.02.2020
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Bundesweit geht die Polizei mit Razzien gegen sogenannte kriminelle Clans vor. Kritiker bemängeln, dass der Staat damit zwar medienwirksam Härte demonstriere, sich aber um wichtigere Zweige der Organisierten Kriminalität zu wenig kümmere.
"Wir verweigern uns gegen dieses Bild von Neukölln. Und wir verweigern uns gegen diese Politik, diese Razzien gegen Arabischstämmige, Mitbürger, Gewerbetreibende, Menschen, die hier leben. Bei diesen Razzien werden in der Regel Bagatellen geahndet. Es geht um eine Abzugshaube, die nicht richtig installiert ist. Oder unverzollten Shisha-Tabak. Das wird medial groß aufgerissen. Schluss mit der stigmatisierenden Pauschalisierung arabischstämmiger Neuköllnerinnen und Neuköllner!" So klingt es bei einem Flashmob im Berliner Stadtteil Neukölln.
Der Kampf gegen Clan-Kriminalität ist eine Gratwanderung. Der Staat soll und muss Rechtsverstöße und Straftaten verfolgen und ahnden. Und viele Bürger begrüßen, dass den Clans mit ihrem häufig provokanten, zum Teil aggressiven Auftreten endlich Paroli geboten wird. Doch dass das massive Vorgehen der Polizei der beste Weg ist, um Kriminalität, gar Organisierte Kriminalität zu bekämpfen, bezweifeln manche.

Streit um den Begriff "Clan-Kriminalität"

Hannes Honecker ist Stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger. Honecker beobachtet in der Gesellschaft und in der Justiz ein wachsendes Bedürfnis nach härteren Strafen und Null Toleranz, aber auch eine zunehmende Ethnisierung von Kriminalität. Neu ist dieses Phänomen sicher nicht. Es gab Zeiten, in denen polnische Diebe die Gemüter erregten, kurdische Drogendealer, die Russenmafia. Jetzt ist es vor allem die arabische Clan-Kriminalität.
"Natürlich muss man sich darüber Gedanken machen, wie man jemanden bestraft, der die Grenzen anderer nicht respektiert", sagt Hannes Honecker. "Das ist keine Frage, das muss man. Ob die Taten allerdings von Familien begangen werden, wie der Begriff suggeriert, das bezweifle ich. Er ist einer, der eine ethnische Gruppe in Sippenhaft nimmt. Er ist für die Kriminalitätsbekämpfung nicht erforderlich. Ich halte diesen Begriff für AfD-Speech."
Berlins Innensenator Andreas Geisel hält solche Kritik für nicht zutreffend. Er ist davon überzeugt, dass der Staat die Zustände viel zu lange toleriert hat. Und dass das provokante Auftreten von Personen aus dem Clan-Milieu das Vertrauen in den Rechtsstaat aushöhlt.
"Wenn ich mein Parkticket bezahlen muss, wenn ich falsch geparkt habe, der Dealer an der Ecke aber ungestraft handeln darf, dann sehen die Menschen, dass der Rechtsstaat seine Regeln nicht durchsetzt", sagt Andreas Geisel. "Und das ist eine gefährliche Entwicklung. Nicht alles ist sofort Organisierte Kriminalität. Wir gehen vor allem auch niederschwellig gegen Regelverletzungen vor. Parken in der zweiten Reihe, verdorbener Orangensaft in Shisha-Bars, oder wenn Kinder die Schule schwänzen. Zu glauben, wir könnten ein weltoffenes Land sein und Integration befürworten, aber Regelverstöße einfach nicht benennen, der spielt den Rechtspopulisten und Rechtsextremisten in die Hände. Das möchte ich ausdrücklich nicht."
Beamte von Polizei und Zoll führen am 16.04.2019 in einer Shisha-Bar auf dem Kurfürstendamm in Berlin eine Polizeikontrolle durch.
Polizeikontrolle in eine Berliner Shisha-Bar© picture alliance / dpa /Jörg Carstensen
Geisel betrachtet die ergriffenen Maßnahmen von Polizei und Justiz als Erfolg. 2018 wurden 77 Immobilien beschlagnahmt, die einem libanesischen Clan zugerechnet werden – derselbe, dessen Mitglieder wohl die 100 Kilogramm schwere Goldmünze im Berliner Bodemuseum geklaut haben. Die Polizei beschlagnahmte 7 Macheten, 159 Patronen, 59 Messer über fünfhundert Kilogramm unverzollten Shisha-Tabak, über 100 Autos und etliche andere Güter. Ähnliche Erfolge gibt es auch in anderen Bundesländern.

Viele kleinere Delikte und Ordnungswidrigkeiten

Viele dieser Fälle betreffen allerdings kleinere Delikte und Ordnungswidrigkeiten, mit Organisierter Kriminalität haben sie wenig bis nichts zu tun. Überhaupt haben Clans nur einen vergleichsweise kleinen Anteil an der Organisierten Kriminalität. Laut Lagebild des Bundeskriminalamtes machten sie 2018 rund 8,5 Prozent aller Verfahren aus. Und das bei hohem Verfolgungsdruck.
Die arabischen Clans stehen derzeit besonders im Rampenlicht. Andere Gruppierungen, die stärker im Verborgenen agieren, gelten aber als erheblich mächtiger und gefährlicher.
Das Problem: Die Berichte zur Organisierten Kriminalität beleuchten, wie alle polizeilichen Statistiken, nur das sogenannte Hellfeld. Das heißt, die Dinge, die der Polizei bekannt sind.
"Wie kommt ein Bild von einer kriminellen Organisation in einem Gebiet zu Stande?" Sagt Sandro Mattiolo. "Die Polizei wird ermitteln, dann gibt es Statistiken, Lageberichte, und die gehen nach oben, kommen zu den politischen Entscheidern und ziehen dann die Konsequenzen."

Was macht die Mafia in Berlin?

Sandro Mattioli ist Mafia-Experte und Vorsitzender von mafianeindanke, der wichtigsten Anti-Mafia-Organisation in Deutschland.
"Jetzt ist es in Berlin so, dass im LKA Berlin die Beschäftigung mit der italienischen Mafia keine besondere Rolle mehr spielt", sagt er. "Es gibt de facto niemanden, der explizit für die Italienische Organisierte Kriminalität in Berlin zuständig ist. Und damit hat das die Konsequenz, dass sie im Grunde nicht existiert. Mir liegen Akten vor, in denen immer wieder Bezüge nach Berlin hergestellt werden. Ich weiß auch von Leuten, die angeworben werden sollten für bestimmte Gruppen. Das heißt, wir beobachten Mafiaaktivitäten. Das sind aber Informationen, die sind nicht polizeilich hart. Sondern das sind Erfahrungswerte, die bei uns ankommen".
Längst hat sich die italienische Mafia in vielen Teilen Deutschlands ausgebreitet, vor allem in Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Schätzungen zu Folge leben hierzulande einige tausend Mafiosi.
Anders als noch vor einigen Jahren vermeiden sie es, durch Morde oder andere Gewaltdelikte aufzufallen. Sie agieren möglichst unter dem Radar und haben sich im legalen Wirtschaftsleben etabliert – im Baugewerbe etwa oder in der Gastronomie.
Viele gelten als respektierte Bürger. Sandro Mattioli: "Ein Beispiel: In Italien ist ein Gastwirt aus Stuttgart festgenommen worden, der schon in den 90ern auffällig geworden ist und wegen Steuerhinterziehung auch angeklagt worden ist damals. Mit eindeutigen Mafiabezügen, der aber in Folge weiterhin in Stuttgart seine Geschäfte machte. Dieser Gastwirt ist jetzt wegen Mafiazugehörigkeit inhaftiert und verurteilt worden. Hat in Baden-Württemberg Immobiliengeschäfte gemacht, beispielsweise mit dem Bürgermeister einer Gemeinde im Umland von Stuttgart. Dieses Geschäft ist nicht vollendet worden, da er vorher festgenommen worden ist. Aber es zeigt, dass eine erhebliche Struktur da ist, die jetzt überhaupt nicht im kriminellen Milieu zu suchen ist. De facto ist dieser Bürgermeister nicht dafür belangt worden. Die Ermittlungen dazu sind nicht weitergegangen, sondern man hat, nachdem dieser Mann in Italien festgenommen wurde, im weitesten Sinne das Ganze auf sich beruhen lassen."

Gigantisches Ausmaß von Geldwäsche in Deutschland

100 Milliarden Euro. So viel Geld wird Schätzungen zu Folge jedes Jahr in Deutschland weiß gewaschen. Eine gigantische Summe. Doch damit soll nun Schluss sein. Zum 1. Januar 2020 hat die Bundesregierung die neue EU-Geldwäscherichtlinie umgesetzt. Die soll es Kriminellen erschweren, ihr illegal verdientes Geld in den legalen Wirtschaftskreislauf zu schleusen.
Um Geldwäsche zu verfolgen, wurde schon 2001 die Financial Intelligence Unit gegründet, kurz FIU. Banken, Notare, Immobilienmakler oder Juweliere sollen seitdem verdächtige Transaktionen ihrer Kunden an die FIU melden. Die Verdachtsfälle werden dort bewertet und, wenn sie sich erhärten, an die Polizei weitergeleitet.
In der Praxis herrscht bei der Anti-Geldwäsche-Einheit allerdings "Land unter". 2017 wurde die Behörde vom Bundeskriminalamt zum Zoll verlegt, um die Schlagkraft zu erhöhen. Doch die Mitarbeiter versinken in Aktenbergen. Fast 80.000 Verdachtsmeldungen sind zuletzt pro Jahr eingegangen. Mehrere 10.000 stapeln sich unbearbeitet auf den Schreibtischen.
"Die Grundprobleme, die sich eigentlich schon abgezeichnet haben bei der Gründung der FIU sind bis heute noch nicht behoben", kritisiert Frank Buckenhofer, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, Bezirksgruppe Zoll.

Geldwäsche-Experten sind rar und teuer

"Dazu gehört im Wesentlichen", sagt er, "dass bei der FIU eine Vielzahl von qualifizierten Beschäftigten eingesetzt sind aus dem Bereich der Finanzwirtschaft und auch aus anderen Bereichen, die auch Ahnung haben von Finanztransaktionen. Aber es sind nicht genug Leute mit kriminalpolitischem und kriminalistischem Sachverstand dort. Denn ich muss natürlich wissen: Wie funktioniert Geldwäsche, wie ist das Verhalten der Täter, wie funktionieren die Vortaten der Geldwäsche."
Experten sind auf dem Arbeitsmarkt rar und teuer, und die Behörden stehen in Konkurrenz mit Unternehmen, die häufig höhere Löhne zahlen. Damit nicht genug: Die Anti-Geldwäsche-Einheit habe auch zu wenig Zugang zu Informationen, klagt Frank Buckenhofer.
"Wenn es Aufgabe der FIU ist zu prüfen, ob es einen Hintergrund im Bereich der OK gibt oder im Bereich der Terrorismusfinanzierung gibt, dann muss sie auch auf viel mehr sensible Daten zurückgreifen können", sagt Frank Buckenhofer. "Die Daten müssten von den Staatsanwaltschaften kommen, die Daten müssten von den Polizeibehörden kommen, und zwar umfangreicher, als das bisher der Fall ist. Und sie sollten letztendlich auch, darüber muss man ernsthaft nachdenken, auch auf Daten der Geheimdienste zurückgreifen können."

Neuer Fokus auf Immobilienkäufen

Künftig wird die FIU wohl sogar noch mehr Arbeit bekommen. Von den knapp 80.000 Verdachtsmeldungen im Jahr 2018 stammen fast alle aus dem Finanzsektor: von Banken und Finanzdienstleistern. Immobilienmakler hielten dagegen gerade einmal 31 Transaktionen für verdächtig, Notare acht, Wirtschaftsprüfer zwei – und das in ganz Deutschland. Mit dem neuen Geldwäschegesetz sollen nun auch sie stärker in die Pflicht genommen werden.
"Wenn sie sich zum Beispiel die traurige Situation im Stadtstaat Berlin angucken", sagt Michael Findeisen. "Da gab es früher einen Wirtschaftssenator von den Linken, jetzt ist es eine grüne Senatorin. Beide Parteien erklären sich ja immer als Schild und Speer im Kampf gegen die Geldwäsche. Da ist es halt ernüchternd. Da sitzen wirklich auf fünf Planstellen, da sind ein bis zwei immer krank, Leute rum, die zigtausende Gewerbeunternehmen, die unter das Geldwäschegesetz fallen, durch Prüfungen, Vor-Ort-Prüfungen prüfen sollen."
Michael Findeisen war als Referatsleiter im Bundesfinanzministerium lange für Geldwäsche zuständig und engagiert sich heute bei der Bürgerbewegung Finanzwende, einer Art "Foodwatch" für die Finanzwelt.
"Und das ist ein Problem, das in dieser Dichte nur in Deutschland vorhanden ist", sagt Findeisen. "Weil der Föderalismus relativ wenig Möglichkeiten gibt, hier durchzugreifen. Die Länder stellen sich auf den Standpunkt: Wir haben nicht die nötigen Ressourcen. Unsere Haushalte sind ohnehin, was Personal anbelangt, angespannt."

Notare werden praktisch nicht kontrolliert

Auch Notare werden in Deutschland praktisch nicht kontrolliert. Dabei spielen sie bei Immobiliengeschäften eine zentrale Rolle. Sie dürfen einen Kauf nur beurkunden, wenn sie den Fluss des Geldes belegen können. Bei Verdachtsfällen sollen sie die FIU informieren. Schätzungen von Transparency International zu Folge werden 15 bis 30 Prozent aller kriminellen Vermögen in Immobilien investiert. Das wären in Deutschland jährlich mehrere Milliarden Euro.
Michael Findeisen fordert deshalb, dass Notare besser kontrolliert werden sollten: "Ich kann Ihnen sagen, auch aus meiner Praxis als Bankenaufseher: Sie müssen da nicht jeden Notar kontrollieren. Wenn zumindest angefangen werden würde, Notare zu überprüfen, da reichen wenige Fälle. Das geht wie ein Lauffeuer rum. Dann wird sich auch das Verdachtsmeldeverhalten bei Notaren erheblich verbessern."
Das neue Geldwäschegesetz hat ein weiteres großes Manko: Bargeld. Kein Land in Europa gibt so viel Bargeld heraus wie die Deutsche Bundesbank und in wohl keinem anderen Land genießt Bargeld ein so großes Ansehen. Dabei spielt es für die Organisierte Kriminalität eine enorme Rolle.

Hohe Bargeldsummen als Problem

In Italien und vielen anderen Ländern Europas sind deshalb Barzahlungen ab 3000 Euro nicht mehr erlaubt. In Deutschland können Luxusautos oder Immobilien dagegen bis heute problemlos cash bezahlt werden. Und keiner weiß, wo das Geld herkommt.
Bündel von 10-, 20-, 50-, 100- und 200-Euro-Banknoten
In Deutschland können Luxusautos oder Immobilien bis heute problemlos bar bezahlt werden.© imago / Thomas Imo
"Es wird ja immer das Bild suggeriert", sagt Michael Findeisen, "die Kriminellen investieren oder transferieren mit digitalen Währungen, Cybermoney etc. Dieses Phänomen gibt es, aber es ist vom Volumen her randständig. Bargeld spielt nach wie vor eine ganz zentrale Rolle. Und das können Sie in Deutschland hier nicht diskutieren. Sie kennen die Diskussionen: Von AfD bis zu Linken schreien alle hoch. Und wenn sie diese Diskussion verfolgen im Bundestag, das ist wirklich wie Psycho. Niemand wagt es überhaupt, dieses Thema anzufassen."
Nicht nur bei der praktischen Bekämpfung der Organisierten Kriminalität gibt es Defizite. Auch bei der Forschung läge vieles im Argen, sagt Professor Arndt Sinn:
"Es gab im Jahr 2018 einen Forschungsbericht, da ist die OK-Forschungslandschaft beleuchtet und evaluiert worden. Da hat die OK-Forschung verheerend abgeschnitten. Man hat uns bescheinigt, dass wir insulär arbeiten würden. Und dass die deutsche Forschung zur OK-Forschung international kaum einen Beitrag leistet."
Sinn, OK-Forscher an der Universität Osnabrück, sieht die Gründe dafür freilich weniger in der mangelnden Qualität der Forscher als in fehlenden Ressourcen.
"Es gibt in Deutschland kein Forschungszentrum für Organisierte Kriminalität wie in anderen Ländern", kritisiert er. "Selbst wenn die Ressourcen da sind, brauchen sie aber den Feldzugang, wie man so schön sagt. Feldzugang heißt: Sie brauchen Zugang zur Akten."

Föderalismus erschwert Zusammenarbeit und Erforschung

Den gibt es aber häufig nicht. Polizei und Staatsanwaltschaften stellen ihre – zum Teil geheimen – Ermittlungsergebnisse ungern zur Verfügung. Zudem kocht jedes Bundesland sein eigenes Süppchen. Dabei wäre es fraglos wichtig, Organisierte Kriminalität besser zu erforschen.
"Wenn ich einen Drogenhändler habe, der auf der A1 mit zwei Kilogramm Haschisch aufgegriffen wird, dann wird der bestraft, natürlich", sagt Arndt Sinn. "Und was haben Sie damit gewonnen, gegen OK? Nichts, gar nichts. Sie haben einen Drogendealer festgenommen und zwei Kilo Marihuana aus dem Verkehr gezogen. Die Organisation, die das alles ermöglicht hat, dass er auf der A1 Richtung Osnabrück fahren konnte, gegen die haben Sie gar nichts gemacht. Weil dieser Kurier austauschbar ist. Wir schauen uns aber zu wenig an, wie sind denn diese Personen in diese Strukturen eingebunden. Und dann, auf langfristige Art, diese Struktur zerstören zu können."
Drogenhandel ist nach wie vor das größte und lukrativste Geschäftsfeld der Organisierten Kriminalität – so besagen es zumindest die offiziellen Zahlen. Vor allem mit Kokain lassen sich enorme Gewinne erwirtschaften. Und die Droge breitet sich massiv aus – europaweit, quer durch alle Bevölkerungsschichten.
Drogenhandel liegt in Deutschland vermutlich aber auch deshalb auf Platz eins der ermittelten Straftaten, weil die Polizei sich hier auskennt. Seit Jahrzehnten hat sie Schmuggelrouten und Strukturen ermittelt. Deshalb kann sie hier auch immer wieder Erfolge vermelden. In anderen Bereichen, wie dem der Produktfälschungen sieht es ganz anders aus.

Betrug mit Arzneimitteln wird kaum verfolgt

Schätzungen zufolge entfällt von den rund 790 Milliarden Euro, die das organisierte Verbrechen weltweit umsetzt, knapp die Hälfte auf Produktpiraterie. Ermittlungen gegen Fälschernetzwerke gibt es aber nur wenige.
Arndt Sinn hat zu dazu geforscht, vor allem im Bereich Arzneimittel: "Das ist ein riesiger Markt. Der aus meiner Sicht in Deutschland als auch international viel zu wenig beachtet wird. Die meisten illegalen Arzneimittel werden über den Online-Bereich vertrieben. Und da geht es nicht nur um gefälschte Arzneimittel. Sondern da werden ganze Onlineshops gefälscht. Das heißt die Shops sehen aus wie normale, legal agierende Apotheken. In bestem Deutsch, in tollen Farben, mit tollen Angeboten, mit toll hinterlegten Beipackzetteln und allem drum und dran. Und dann zu sehen: Ist das ein legal agierendes Unternehmen oder ist es ein illegal agierendes Unternehmen, das ist für den Verbraucher kaum möglich."
Die EU versucht zwar schon seit längerem, gegen gefälschte Medikamente und Online-Shops vorzugehen. Dennoch: Betrug mit Arzneimitteln ist für Kriminelle nach wie vor attraktiv. Er wird von der Polizei kaum verfolgt, damit ist das Entdeckungsrisiko niedrig. Wird schließlich doch ein Täter verurteilt, sind die Strafen erheblich niedriger als bei Drogendelikten.
"Das ist ein Markt, bei dem unglaubliche Mengen von Produkten umgesetzt werden", erklärt Arndt Sinn. "Bei denen Sie riesige Gewinnspannen haben, die größer sind als bei Kokain oder Heroin. Es gab in Deutschland auch ein Verfahren, der Potsdam-Komplex. Und diese Tätergruppierung hatte in zweieinhalb Jahren 21 Millionen Euro generiert."
Warum aber ist der Kampf gegen die Organisierte Kriminalität so erfolglos?
Ein Grund: Ermittlungen gegen die OK sind aufwändig und personalintensiv, und nicht immer führen sie zum Erfolg. Der Staat hat aber nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung, und die müssen effizient eingesetzt werden. Ein Grund ist aber auch, dass sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001 die staatliche Aufmerksamkeit von der Organisierten Kriminalität zum Terrorismus verlagert hat. Und der weckt in der Bevölkerung noch größere Ängste.

Bekämpfung des Terrorismus hat Priorität

Kein Politiker will sich nach einem möglichen Anschlag vorwerfen lassen, zu wenig gegen Terrorismus getan zu haben. Die Risiken von Organisierter Kriminalität sind dagegen für die Bürger häufig nicht unmittelbar sichtbar.
Frank Buckenhofer von der Gewerkschaft der Polizei: "Die Oma, die gerade am Geldautomaten war und 300 Euro abgehoben hat für den Enkel, der das Abitur bestanden hat, und sie muss jetzt durch den Essener Hauptbahnhof. Und sie hat möglicherweise Angst, nachts durch den Essener Hauptbahnhof zu gehen. Weil sie Sorge hat, dass man sie überfällt, ihr die Handtasche klaut und die 300 Euro weg sind. Während die Organisierte Kriminalität für 99 Prozent der Menschen eine völlig abstrakte Kriminalität ist, von der sie eigentlich auch gar nicht betroffen sind in erster Linie. Sie merken das erst, wenn sie geprellt worden sind, weil man ihnen ein Auto verkauft hat, das aus Russland reimportiert worden ist. Mit gefälschten Papieren und zurückgedrehtem Tacho. Aber das merkt man erst viel später. Und selbst wenn man es merkt, dann denkt man: Da hat mich ein Autohändler über den Tisch gezogen. Man hat noch nicht den Link zur Organisierten Kriminalität. Das heißt, die Organisierte Kriminalität ist so abstrakt, dass sie als politischer Werbeträger für – 'Wählt mich! Ich bekämpfe die Organisierte Kriminalität!' – eigentlich nicht wirklich geeignet ist."
Auch in Italien wurde die Mafia lange nicht ernst genommen. Erst als in den 70er- und 80er-Jahren reihenweise Richter und Staatsanwälte ermordet wurden, begann die Öffentlichkeit umzudenken und die Politik, stärker dagegen vorzugehen. Seitdem steht die Mafia in Italien unter hohem Druck. Vielleicht zu spät: Denn längst hat sie sich tief in die Gesellschaft eingegraben.
Der Mafia-Experte Sandro Mattioli: "Das hat man in Norditalien über Jahrzehnte gemacht. Und hat gesagt: das ist ein Problem von Süditalien. Und inzwischen hat Norditalien mehr Mafianiederlassungen als Süditalien und größere Probleme. Selbst bei der Expo in Mailand, wo man wirklich viel getan hat, dass keine Mafiaunternehmen von der Expo profitieren, ist es nicht gelungen. Das sollte uns eigentlich Mahnung sein. Ich kann nicht über alles sprechen. Aber ich bekomme aus italienischen Akten Informationen, dass es Kontakte gibt zwischen Mafia und führenden Personen in unterschiedlichen Bereichen, die es definitiv nicht geben sollte. Das sind Dinge, die müsste man eigentlich in den Blick nehmen."

Systematischer Betrug von Diesel- bis Cum-Ex-Skandal

Vielleicht gibt es in Deutschland auch einfach eine zu große Toleranz bei der Definition von Organisierter Kriminalität. Was verfolgt und was toleriert wird.
Beim Dieselskandal haben sich zum Beispiel große Unternehmen systematisch bereichert, indem sie Gesetze gebrochen und Kunden betrogen haben. Spricht hier jemand von Organisierter Kriminalität? Oder gar vom Volkswagen-Clan? Auch Banken haben mit illegalen Geschäften systematisch und in großen Stil Geld gescheffelt und die Gesellschaft geschädigt – siehe Panama-Papers oder der Cum-Ex-Skandal.
Abgase kommen aus einem Auspuff eines Diesel-Pkws.
Beim Dieselskandal spricht in der Regel kaum jemand von Organisierter Kriminalität.© picture-alliance / dpa / Patrick Pleul
In all diesen Fällen hat die Politik zuerst gar nicht reagiert, und als sie nicht mehr anders konnte, nur halbherzig. Michael Findeisen von der Bürgerbewegung Finanzwende sieht hier eines der zentralen Probleme.
"Es ist irgendwie auffällig", sagt er, "dass Parteien im deutschen Bundestag, die sich relativ wenig um Wirtschaftsverbrechen, Weiße-Kragen-Täter kümmern, und das ist hauptsächlich Organized Crime, plötzlich alle aufschreien, wenn es um Clan-Kriminalität geht. Da steht die FDP und die AfD Gewehr bei Fuß. Da kümmern sie sich drum, um kleine Anfragen et cetera pp. Obwohl jede Maßnahme gegen Geldwäsche, die eine Verschärfung darstellt, von diesen Parteien abgelehnt wird."
Und so sieht die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zuweilen eher wie ein Schaukampf aus, als wie konsequente und effektive Verfolgung.

Ruf nach einer zentralen Finanzpolizei

Frank Buckenhofer von der Gewerkschaft der Polizei stößt mit seinen Forderungen immer wieder auf Granit. Seit Jahren fordert die Gewerkschaft der Polizei die Schaffung einer zentralen Finanzpolizei, um Geldwäsche und Finanzkriminalität endlich effektiv bekämpfen zu können.
"Wir waren überrascht und erfreut, dass die erste Partei in Deutschland, die einen Beschluss gefasst hat, dass man eine Finanzpolizei braucht, die FDP ist", sagt Frank Buckenhofer. "Die zweite Partei, die diesen Beschluss gefasst hat, waren die Linken. Was uns allerdings auch überrascht hat, ist, dass die SPD auf dem Parteitag im Juni 2017 beschlossen hat, dass sie eine Finanzpolizei will. Aber dass gerade die SPD nichts unternimmt, eine Finanzpolizei tatsächlich zu schaffen. Das wundert deswegen, weil man eigentlich denken könnte, dass die Parteien SPD und CDU/CSU, die nun über viele Jahrzehnte die leistungstragenden Parteien in den jeweiligen Koalitionen waren, ein vitales Interesse daran haben müssten, dass diese Art von Bereicherungskriminalität, von asozialer Bereicherungskriminalität wirksam bekämpft wird. Und da erleben wir eine eher schwach aufgestellte Politik, die zwar in den Sonntagsreden sagt: Wir müssen diese Kriminalität wirksam bekämpfen. Die auch die eine oder andere Gesetzeskosmetik betreibt. Aber der Masterplan, der bleibt aus."

Autor: Peter Podjavorsek
SprecherInnen: Eva Kryll und Markus Hoffmann
Ton: Martin Eichberg
Regie: Klaus Michael Klingsporn
Redaktion: Martin Hartwig

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