Organ-Chip-Technologie

Ein Ende der Tierversuche?

Ein Multi-Organ-Chip - etwa smartphonegroß mit Zylindern, die Gewebe enthalten
Ein Multi-Organ-Chip © imago
Von Philip Banse · 11.02.2016
Die Fehlerquote nach Medikamententests an Tieren ist sehr hoch. Menschen reagieren häufig anders als erwartet. Organ-Chips sollen Tierversuche zukünftig ersetzen. Denn diese Miniatur-Nachbauten des menschlichen Organismus liefern viel aussagekräftigere Ergebnisse.
"Ich stelle gerade einen Multiorgan-Chip her, in dem man zwei Organe gleichzeitig kultivieren kann."
Anna Kreuder sitzt an einer sterilen Labor-Werkbank im Fachgebiet für Medizinische Biotechnologie der TU Berlin. Vor der Doktorandin liegt ein Organ-Chip, in dem das Zusammenwirken mehrerer menschlicher Organe simuliert werden kann. Eine Kunststoffplatte, groß wie eine Zigarettenschachtel. Darin Kammern, groß wie ein Cent-Stück, in denen die Organzellen wachsen, kleine Zellhaufen, die aber alle Funktionen des menschlichen Organs haben. Diese Organ-Modelle sind verbunden durch kleine Kanäle, durch die eine Flüssigkeit mit Nährstoffen gepumpt wird, das Blut.
Ein Organ-Chip mit Pumpschläuchen für Flüssigkeit
Ein Organ-Chip mit Pumpschläuchen für Flüssigkeit© Deutschlandradio / Philip Banse
Diese Organchips haben also nichts mit Computerchips zu tun, nichts mit Elektrik. Die Kunst ist, das richtige Material zu finden, die richtige Flüssigkeit zu finden, den korrekten Pump-Rhythmus und Druck zu finden, damit alle gezüchteten Organzellen möglichst lange überleben: 28 Tage, vielleicht einmal 90 Tage.
"Das ist die Vorbereitung für die Experimente und der Aufbau dauert immer am längsten."
Anna Kreuder setzt ihre Organe in die Organkammern des Chips.
"Ein Modell für die Entwicklung des Gehirns, also neuronale Zellen und ein Modell für die Entwicklung von Blutgefäßen."
Also menschliche Knochenmarkszellen. Mit diesem recht simplen Aufbau kann Anna Kreuder wichtige Funktionen des menschlichen Organismus simulieren: Sie erforscht, ob in der Blut-Flüssigkeit Medikamente von der Schwangeren zum Embryo wandern können. Anna Kreuder bestückt drei Chips mit Organ-Zellen: Mutter, Plazenta, Kind.
"Wo ist die Placenta?"
"Die ist hier noch nicht drauf, das hier wird der Baby-Teil. Ich mache nicht nur die Plazenta, sondern davor auch einen mütterlichen Kreislauf und einen kindlichen Kreislauf. Und hier probiere ich erstmal aus, wie die kindlichen Organe zusammenspielen würden und die werden dann praktisch hinter die Plazenta geschaltet."
Anna Kreuder sitzt an einer sterilen Labor-Werkbank im Fachgebiet für Medizinische Biotechnologie der TU Berlin
Anna Kreuder sitzt an einer sterilen Labor-Werkbank im Fachgebiet für Medizinische Biotechnologie der TU Berlin© Deutschlandradio / Philip Banse
Solche Nachbauten des menschlichen Organismus sollen helfen, Tierversuche zu ersetzen. Nach Angaben der der EU gab es 2011 in Europa gut 11 Millionen Tierversuche. Über drei Viertel davon für die biologische Grundlagenforschung und Medikamententests.
"Wenn wir an alle Tierversuche denken, vielleicht 70 Prozent, die ersetzt werden könnten, wenn wir dieses vollständige Mensch-auf-dem-Chip-System fertig haben."
Sagt Reyk Horland, Projektleiter bei der Tissuse GmbH, einer Ausgründung des Fachgebiets Medizinische Biotechnologie an der TU Berlin.
Ein Chip für zehn Organe
Mit fünf Millionen Euro vom Bundeswirtschaftsministerium hat ein Team dieses Fachgebiets Chips für zwei und vier Organe entwickelt. Dann mussten die staatlichen Forscher eine Firma gründen, die Tissuse GmbH übernahm dann alle Patente, sammelte privates Geld ein und bekam jetzt noch einmal knapp 3,5 Millionen vom Staat, um einen Chip für zehn Organe zu entwickeln, den Menschen auf dem Chip.
"Die Idee ist einfach zu sagen, dass wenn man es schafft, in einem Miniatur-Maßstab den Menschen auf dem Chip zu emulieren, dann kann man den natürlich viel besser und mit Ergebnissen, die viel aussagekräftiger sind, einsetzen für die Medikamentenentwicklung, für die Testung neuer Kosmetika, als beim Tierversuch. Denn die Ratte ist nun mal anders als der Mensch."
Deswegen sind Tierversuche wissenschaftlich so wenig belastbar. Jüngste Untersuchungen legen nahe: Von zehn Medikamenten, die sich im Tierversuch für den Menschen empfahlen, werden neun letztlich doch verworfen, weil Menschen anders reagieren als erwartet. 90 Prozent Fehlerquote – das geht mit simulierten Menschen in einer Kunststoffplatte besser, sagt Reyk Horland. Mit dem 4-Organ-Chip testet sein Team heute schon Medikamente, die Wirkung von Tabletten zum Beispiel:
"Es muss möglich sein dann für diesen Stoff, durch die Darmwand zu kommen, um dann in den Blutkreislauf aufgenommen zu werden, von dort zur Leber transportiert zu werden, in den Leber verstoffwechselt zu werden, dann, was passiert in dem vierten Organ? Ist einer der Metabolite der Leber toxisch? Oder ist der Primärstoff toxisch für das vierte Organ zum Beispiel? Und gleichzeitig kann man, wenn man die Niere draufhat, auch die Exkretion simulieren."
Menschen auf dem Chip können nicht denken und fühlen - bislang
Die Nierenzellen auf dem Chip produzieren also richtigen Urin, dafür hat der 4-Organ-Chip sogar schon einen eigenen Urinkreislauf. 2018 soll der Chip für zehn oder mehr Organe fertig sein.
"Der wird verschiedene Kreisläufe haben, der wir dieses elektrische Kuppeln von Herz und neuronale Zellen haben, der wird eine Abfuhr von Galleflüssigkeit für die Leber enthalten für Lymphflüssigkeit und so weiter."
Reyk Horland, Projektleiter bei der Tissuse GmbH, einer Ausgründung des Fachgebiets Medizinische Biotechnologie an der TU Berlin
Reyk Horland, Projektleiter bei der Tissuse GmbH, einer Ausgründung des Fachgebiets Medizinische Biotechnologie an der TU Berlin© Deutschlandradio / Philip Banse
Sein Team spreche laufend mit Ethik-Experten. Ergebnis: So lange die Menschen auf dem Chip nicht denken und fühlen können, ist alles o. Doch längst gedeihen in Chips auch Gehirnzellen.
"Aber in ganz einfachem Maßstab. Da kann man das elektrische Potenzial abfassen, aber die sind aufgrund der Limitierungen, die man im Chip hat, nicht in der Lage zu denken, Gefühle zu erfassen oder zu denken."
Die Frage ist jedoch: Wie lange werden diese Einschränkungen gelten? Neueste Gentechniken wie Crisper Cas erlauben sehr gezielte Manipulationen des Erbguts; Informatiker arbeiten an der Entwicklung künstlicher Intelligenz, Technik und Biologie wachsen immer weiter zusammen.
"Ja, man sieht einen Trend, aber für uns sind diese Menschen auf dem Chip, diese Multiorgan-Systeme einfach wirklich nur ein Tool, um in der Sicherheits- und Effizienzbewertung von neuen Stoffen eingesetzt zu werden. Weiter wollen wir da nicht gehen. Wenn wir das schaffen, dann haben wir sehr, sehr viel erreicht, dann ist das für die Gesellschaft auch ein sehr, sehr großer Fortschritt und bis wir dahin kommen, brauchen wir eine ganze Weile. Danach kann man sich Gedanken machen, wo man dann noch hingeht, aber das ist definitiv nicht unser Fokus."
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