"Operette der Entscheidungen"

Moderation: Liane von Billerbeck · 08.06.2007
Der Philosoph Peter Sloterdijk hat Versammlungsformen wie den G8-Gipfel kritisiert. Auf der einen Seite gebe es den Gipfel, der auf der Weltbühne "eine Art von Operette der Entscheidungen oder der Entscheidungsfähigkeit" aufführe, sich aber in Wahrheit gegensätzlich blockiere. Auf der anderen Seite gebe es die Protestierer, die ein "Musical" aufführten, in dem die "verschiedensten Melodien" von "Interpretationen der Weltlage" gespielt würden, sagte Sloterdijk.
Liane von Billerbeck: Mit dem Philosophen Peter Sloterdijk, der gerade mit seinem Buch "Zorn und Zeit" auf Lesereise ist. Guten Morgen, Herr Sloterdijk.

Peter Sloterdijk: Guten Morgen.

Von Billerbeck: "Die Empörung hat keine Weltidee mehr vorzuweisen", schreiben Sie in Ihrem Buch. Jetzt haben wir aber die Bilder von den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm gesehen – am Zaun in Rostock, Greenpeace auf dem Wasser, beim Kirchentag in Köln. Könnte daraus wieder eine solche Weltidee des Zorns werden?

Sloterdijk: Das glaube ich nicht, das hoffe ich auch nicht, denn die Menschheit hat mit den bisherigen großen Organisationen des Zorns eher problematische Erfahrungen gemacht. Wenn wir insbesondere sozusagen an die kommunistische Unternehmung denken, den Zorn der gesamten Erniedrigten und Beleidigten in einer einzigen Partei zu sammeln und daraus revolutionäre Politik abzuleiten, so ist das eher eine abschreckende Idee. Der Zorn ist auch ja nicht dazu da, um Politik zu machen, sonder um sich selbst sozusagen zu verwandeln in ein Selbstgefühl, mit dem die Träger des Zorns besser leben können.

Von Billerbeck: Aber nun hat die Welt ja genug Probleme – Armut, Hunger, Krankheiten, Umweltzerstörung, so viel –, dass, wie man bei Ihnen nachlesen kann, es für mehr als ein 1917, also eine Oktoberrevolution reichen dürfte. Warum lässt sich daraus nichts Produktives filtern?

Sloterdijk: Die Sammlungsformen fehlen im Augenblick, und die Probleme müssen heute auf andere Weise gelöst werden als durch die Konstitution von so großen Zornparteien oder Zornkörpern, wie wir sie in der Geschichte beobachtet haben. Das ist etwas, was die Zeitgenossen schwer verstehen, und deswegen wird auch zurzeit eher fortgefahren auf der Linie der historischen Protestbewegungen. Aber ich denke, das Schicksal dieser Protestbewegungen ist dadurch vorentschieden, dass sich ja, wie wir in Deutschland es gerade erleben, die Illusionen auf beiden Seiten des Zauns so sehr enthüllt haben. Wenn acht mächtige Menschen zusammenkommen müssen, um einen Beschluss vom Typ des eben Formulierten zu fassen, dann wird klar, dass hinter dem Zaun ja eigentlich die acht ohnmächtigsten Menschen der Welt sich versammelt haben und dass die Protestierer sich in gewisser Weise in der Adresse irren, wenn sie glauben, dass sie mit den G8-Chefs reden können oder reden müssen, um ihre Anliegen vorwegzubringen.

Von Billerbeck: Liegt es vielleicht auch daran, dass die Globalisierungskritiker ihre Proteste deshalb nicht bündeln können, weil sich das Ganze nicht auf ein einziges Ziel fokussieren lässt. Ich sag mal, die Hausbesetzer in den 70er Jahren, die kämpften für ein Dach überm Kopf, die Friedensbewegung in den 80ern gegen die Raketenstationierung. Und jetzt ist das aber alles nicht so einfach, also die Zielrichtung ist nicht in den Personen festzumachen, aber auch nicht in einer griffigen Formulierung.

Sloterdijk: Das ist völlig richtig. Wir haben es heute mit einem ganzen Regenbogen von oppositionellen Zielen zu tun. Die fangen an mit den elementarsten Bedürfnissen von Menschen in Not und reichen bis zu ausgesprochenen Luxusartikulationen, und es ist so gut wie unmöglich, überall diesen einzelnen Postulaten so etwas wie ein gemeinsames Dach zu konstruieren. Deswegen sind ja auch die heutigen Bewegungen in sich sehr bunt, sehr heterogen und verzichten weitgehend auf programmatische oder dogmatische Formulierungen, um den Schein des Zusammenhalts nicht zu gefährden. In meinen Augen handelt es sich eigentlich auch auf der Seite der Demonstrierenden heute eher um eine Form der Festivalkultur. So wie auf der einen Seite die Staatsmänner und Staatsfrauen sich die Illusion erlauben, auf einem Gipfel Probleme zu diskutieren, und das ist offenkundig auch eine Luxusform von Politik – und ernst zu nehmende Persönlichkeiten des politischen Lebens sagen ja, dass solche Versammlungen ziemlich überflüssig sind –, so leisten sich aber auch die Protestierenden sozusagen auf unserer Seite des Zauns eher so eine Art von Luxuszusammenkunft. Und ich denke, man versteht das, was da in Heiligendamm geschehen ist, am besten, wenn man es unter dem Oberbegriff Festival abhandelt.

Von Billerbeck: Vergleicht man die heutigen Proteste mit denen in früheren Jahrzehnten oder Jahrhunderten, dann unterscheidet sie ja vor allem eins: Die Protestierer können sich ganz schnell informieren, vernetzen und koordinieren, aber trotzdem werden sie nicht eins. Weshalb wird es eben doch nicht schlagkräftig, was man da vereinen kann?

Sloterdijk: Ja, es gibt kein vereinigendes Programm, weil es keine effektiv arbeitende Zornbank gibt, nicht. Unter diesem Begriff habe ich in dem Buch "Zorn und Zeit" die Geschichte der Linken in den letzten 200 Jahren resümiert und habe versucht zu beschreiben, wie die Investitionen dieser Zornkapitale erfolgt sind und wie übrigens der Kommunismus des sowjetischen Typs auf einer riesigen Veruntreuung dieser eingelegten Zornesguthaben seiner Mitglieder beruhte. So etwas kann sich im Augenblick nicht wiederholen. Die größte und bedeutendste und vielleicht auch konsistenteste Zornsammlung, die im Augenblick auf der Weltbühne zu beobachten ist, ist diejenige, die in der Welt des Islam sich artikuliert. Im Vergleich mit dieser sind die demokratischen Protestformen, die sich heute im Westen artikulieren, eher harmlos, aber sie haben natürlich auch einen sehr starken und produktiven Sinn. Denn im Grunde genommen sind ja diesseits und jenseits des Zauns dieselben Formen von Problembewusstsein anzutreffen. Und wenn sich beide sozusagen an die Medien wenden und die Kameras wenden, dann sieht man ja sehr deutlich, dass sie längst aus einem weithin gemeinsamen Problembefund heraus agieren. Und die Tatsache, dass so flaue und nichtssagende Beschlüsse gefasst werden, drückt im Wesentlichen nur aus, dass sich tatsächlich nicht die mächtigsten, sondern die ohnmächtigsten Menschen der Welt hinter dem Zaun versammelt haben.

Von Billerbeck: Wenn wir uns beide Seiten bei dem G8-Gipfel ansehen, also das Treffen der Staatschefs einerseits, inszeniert vor der weißen Stadt am Meer, Heiligendamm, dann sitzen sie in einem halbrunden, extra angefertigten Strandkorb, und auf der anderen Seite auch eine Inszenierung, Luftballons am Zaun, Steinewerfer in Rostock, das Rockkonzert, Greenpeace auf Schlauchbooten – wie wichtig ist diese Inszenierung für die Wahrnehmung des Gipfels und für die Wahrnehmung des Protests?

Sloterdijk: Ich glaube, die ganze Inszenierung ist für die Medien gemacht. Auf der einen Seite ist das G8 so etwas wie ein künstliches Ensemble, das auf einer Weltbühne eine Art von Operette der Entscheidungen oder der Entscheidungsfähigkeit aufführt, die sich aber in Wahrheit ja gegenseitig blockiert, und auf der anderen Seite haben wir sozusagen ein Musical auf dieser Seite des Zauns, in dem die verschiedensten Melodien gespielt werden, in denen heute Interpretationen der Weltlage vertonbar sind. Und beides kann nur wirklich werden, wenn die moderne Wirklichkeitsdefinition erfüllt wird, nämlich in den Medien sein. Sein und In-den-Medien-Sein sind identisch. Und für diese Identität tun beide Seiten alles.

Von Billerbeck: Sie haben gesagt, das sei gar nicht beklagenswert letztlich, dass es diese Weltidee des Zorns nicht mehr gibt, und haben auf den Islamismus hingewiesen. Muss eine solche Weltidee also immer gewalttätig sein, Frage also, hängen Zorn und Gewalt immer zusammen?

Sloterdijk: Zorn und Gewalt stehen natürlich in einer positiven Korrelation zueinander. Aber was die Welt heute wirklich braucht, ist ja nicht sozusagen ein neuer Zornanlauf, sondern eine Zivilisationsidee, die so stark ist, dass sie alle Mitspieler innerhalb der Weltökumene überzeugt und an der Formulierung einer solchen zivilisatorischen Großperspektive mitzuarbeiten.

Von Billerbeck: Reicht das Ziel, die Rettung der Erde, dafür nicht?

Sloterdijk: Nein, das glaube ich nicht, denn die Erde rettet sich in der einen oder anderen Weise ja selbst. Was gerettet wird, sind ja immer nur die menschlichen Kulturen, die menschlichen Lebensformen, die sich heute wie in einem großen Treibhaus oder wie in einem großen Gewächshaus mit der grünen Natur an den Tisch setzen muss, um einen gemeinsamen Modus vivendi auszuhandeln. Und dies geschieht aber in tausend oder Millionen zerstreuten Konferenzen, wo Menschen jeweils an ihrem Ort die ökologische Balance suchen müssen. Wobei sich dann aus diesen lokalen Balancen die globale erst ergeben kann. Aber die Weltidee, nach der gesucht wird, liegt im Bereich der Zivilisationstheorie und nicht im Bereich der Kritik, der Macht. Wir müssen froh sein, dass es Macht gibt, die überhaupt noch sich um die Regulierung der großen Angelegenheiten zu kümmern bemüht. Und in diesem Sinn ist die Weltidee, aus der heraus künftige Politik und auch künftiger Protest sich speisen können, erst im Begriff der Formulierung.

Von Billerbeck: Anachronistische Rituale - wohin führen die Proteste gegen den G8-Gipfel? Wir sprachen mit dem Philosophen Peter Sloterdijk, der in seinem Buch "Zorn und Zeit" vom Fehlen einer Weltidee für die Empörung geschrieben hat. Ich danke Ihnen.