Oper

Tatendurstiger Antiheld

Der russische Dirigent Kirill Petrenko
Der russische Dirigent Kirill Petrenko © dpa / picture alliance / Frank Leonhardt
05.12.2015
Aufreger und Hingucker auch im dritten Jahr war der aktuelle Ring in Bayreuth mit Kirill Petrenko am Pult und in der Inszenierung von Frank Castorf . Wir setzen den Zyklus mit "Siegfried" in einer Aufnahme aus dem vergangenen Sommer fort.
Die Bayreuther Festspiele sind ein Ereignis, das in der Sommerferienzeit stattfindet, wenn Politiker und andere Kulturinteressierte Zeit und Muße für lange Musiktheaterabende haben. Wir bieten an dieser Stelle die Gelegenheit, das sommerliche Feeling vom Grünen Hügel bei uns im Programm in kondensierter Form nachzuerleben. Wir werden die Aufnahme des kompletten Bayreuther Rings an diesem und den folgenden Samstagen ausstrahlen. Nicht zuletzt weil dieses Mammutwerk in jede Jahreszeit passt.
Nicht nur Frank Castorf, der die Handlung aus Richard Wagners Nibelungenreich nach Kalifornien und an den Berliner Alexanderplatz verlegt, ist der Meinung: Fricka, Freia, Wotan, Loge, Fasolt und ihre Freunde sind Menschen wie Du und ich von heute - verletzend und verletzlich, hemdsärmlig und erfolgsorientiert, rechthaberisch, die Umwelt ausblendend, egoistisch und egozentrisch, forsch und angstvoll. Diese Figuren werden in mythischer und irdischer Verzahnung zu- und gegeneinander gestellt. Richard Wagner verzichtet außerdem nicht darauf, das ganze noch philosophisch aufzuladen.
Selbst wer Richard Wagners Ring oft hört, kann dem Werk jedes Mal neue Seiten abhorchen, wird neue Einblicke gewinnen, wird durch die Auseinandersetzung mit dem Stoff und der Musik bereichert. Drei Jahre in Folge hat Kirill Petrenko, Münchner Staatsopernmusikdirektor und zukünftiger Chef der Berliner Philharmoniker, den Ring in Bayreuth dirigiert. Er war immer der Liebling des Publikums - zusammen mit seinem Orchester und den Solistinnen und Solisten, während Frank Castorf und sein Regieteam den Unwillen vieler Wagner-Liebhaber ertragen mussten.
Im nächsten Jahr wird Marek Janowski dieselbe Inszenierung als Dirigent übernehmen. Er gilt ebenso wie Petrenko als Wagner-Experte. Das hat er nicht zuletzt hier im Programm mit seinem konzertanten Zyklus mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bewiesen. Mit Frank Castorf hat er sich schon über dessen Grundideen ausgetauscht. Letztlich spielt es für das Klangerlebnis ja keine Rolle, ob man das Rheingold nun für das eigentliche Edelmetall oder - wie Frank Castorf - für das Schwarze Gold unserer Tage hält, das der Welt stetige Bewegung ermöglicht.
Der Nibelungenrecke und Drachenbezwinger Siegfried taucht quer durch die Jahrhunderte in Dramen, in Erzählungen und Gedichten auf. Als blond und groß wurde er beschrieben und verklärt - er passte damit perfekt ins nationalsozialistische Propagandaschema. Heute ist es ist still geworden um ihn – er hat eher schlechte Karten im Vergleich zu den Herren der Ringe und all den digitalen Recken der Neuzeit, seine Zeit scheint abgelaufen. Jedoch rettete Richard Wagner ihn in die Zeitlosigkeit - seine Gestalt ist so vieldeutig, sein Charakter passt in alle Epochen: Siegfried wurde in verschiedenen Inszenierungen auf die Couch der Psychoanalyse gelegt, in den Zeittunnel gestellt, auf der Weltesche platziert oder zum tumben Antiheld von nebenan umgemünzt.
"Wir fühlen alle denselben Tatendurst, denselben Trotz gegen das Herkommen in uns, der Siegfrieden aus der Burg seines Vaters trieb: Das ewige Überlegen, die philiströse Furcht vor der frischen Tat ist uns von ganzer Seele zuwider, wir wollen hinaus in die freie Welt, wir wollen die Schranken der Bedächtigkeit umrennen und ringen um die Krone des Lebens, die Tat!" So hat niemand geringerer als Friedrich Engels die Motivation des Haupthelden dieses Abends beschrieben.
Bayreuther Festspiele
Festspielhaus
Aufzeichnung vom 30. Juli 2015
Richard Wagner
"Siegfried"
Zweiter Tag des Bühnenfestspiels
"Der Ring des Nibelungen"
Siegfried - Stefan Vinke, Tenor
Mime - Andreas Conrad, Tenor
Der Wanderer - Wolfgang Koch, Bariton
Alberich - Albert Dohmen, Bassbariton
Fafner - Andreas Hörl, Bass
Erda - Nadine Weissmann, Mezzosopran
Brünhilde - Catherine Foster, Sopran
Waldvogel - Mirella Hagen, Sopran
Orchester der Bayreuther Festspiele
Leitung: Kirill Petrenko