Online-Überwachung

Freiwillig in Ketten

Von Wolfgang Dreßen · 12.02.2014
Noch vor dem NSA-Spähskandal analysierten die Soziologen Zygmunt Bauman und Davod Lyon die gegenwärtige Kontrollgesellschaft. Niemand könne im Zeitalter des Internet sicher sein, nicht beobachtet zu werden - was zunehmend zu einer freiwilligen Konformität führe, so ihr Fazit.
Zygmunt Bauman und David Lyon diskutierten 2011 per Mail über ihre Gegenwart, in der "Überwachung (...) ein Grundzug" geworden ist. Sie begannen mit einem Rückblick. Jeremy Bentham entwarf am Ende des 18. Jahrhunderts das architektonische Modell bisheriger Überwachung. Er nannte es "Panoptikum". Von einem zentralen Punkt aus werden voneinander isolierte Menschen beobachtet und kontrolliert. Die Kontrollierten wissen nicht, wann sie beobachtet werden. Das Panoptikum dient der Umerziehung, bisher abweichendes Verhalten wird möglichst angepasst. Dieses Panoptikum lieferte die Vorlage für die Architektur vieler Einzelhaftgefängnisse.
Überwachung ist inzwischen verallgemeinert worden. Bauman spricht von einer "flüchtigen Überwachung". Es gibt keinen zentralen Punkt mehr, von dem aus kontrolliert wird. Niemand kann mehr sicher sein, nicht beobachtet zu werden. Und niemand kann auf Dauer sicher sein, nicht zu den "Unerwünschten" zu gehören. Erreicht wird eine Selbstbeobachtung, eine Befolgung von Normen, die niemals genau definiert sind.
Als zentrale Instrumente dieser "flüchtigen Überwachung" dienen Internet und Handykommunikation. Die Drohnen der modernisierten Kriegsführung erweitern die Möglichkeiten: Sie agieren möglichst unsichtbar, sie sanktionieren bis zur gezielten Tötung, die Akteure handeln in größtmöglicher Entfernung. Ein solcher Krieg wird nicht mehr als Krieg wahrgenommen.
Facebook-User garantieren ihre lückenlose Kontrolle
Bauman und Lyon ziehen Parallelen zwischen diesem Drohnenkrieg und den Facebook-Usern. Auch hier bleiben Beobachtung und Auswertung der Daten unsichtbar. Aber die Facebook-User haben eine erwünschte Konsequenz gezogen. Sie chatten schon deshalb möglichst dauernd, um nicht isoliert zu sein, wie noch im Modell der Einzelhaft. Sie freuen sich, nicht ausgegrenzt zu werden, weil sie den "Kommunikationsfluss" aufrecht erhalten und garantieren damit selbst ihre lückenlose Kontrolle.
Die "mit mobilen Beichtstühlen ausgerüsteten" Menschen arbeiten daran, dazuzugehören. Blieben mit dem Panoptikum noch Ablehnung und Widerstand verbunden, so erreicht die "flüchtige Überwachung" eine umfassende und vor allem freiwillige Konformität. Zwang wird übersetzt in Verführung, eine polizeiliche Maßnahme in ein "reizvolles Angebot". Die Kosten dieser "freiwilligen Knechtschaft" trägt der Kontrollierte selbst. Lustvoll soll jeder daran arbeiten, gebrauchsfähig zu bleiben.
Die Menschen dagegen, von denen auch nur angenommen wird, dass sie nicht fähig sind, diesen "Lustangeboten" zu folgen, werden verbannt. Bauman und Lyon bezeichnen die für diese Menschen organisierten Räume als "Bannoptikum". Sie umfassen Gefängnisse, Lager, Stadtteile oder auch ganze Länder.
Für Bauman und Lyon haben wir das destruktive 20. Jahrhundert keineswegs überwunden. Der Plan des vollkommenen Menschen wird jetzt auf einer neuen Stufe verwirklicht. Destruktion verschwindet hinter dem Spaß, dazuzugehören.
Auswege aus der Überwachung
Bauman und Lyon diskutieren am Ende ihrer Mailunterhaltung die möglichen Auswege. Einen "König" oder "Hauptverantwortlichen", der zu stürzen wäre, finden wir nicht mehr. Dies macht die heutige Lage scheinbar aussichtslos, aber zugleich muss gerade deshalb Hoffnung nicht aufgegeben werden. Nicht eine weitere technische und soziale Konstruktion angeblich richtigen Lebens, sondern die unbedingte Verantwortung für den Anderen eröffnet Auswege. Bauman und Lyon zitieren aus der Thora und den Evangelien, in denen sie eine solche Aufforderung finden. Überwachungssysteme dagegen zerstören jede Verantwortung für den Anderen.
Dieses Buch wird zur richtigen Zeit veröffentlicht. Es bietet eine nützliche Grundlage für die weiteren Diskussionen über Sicherheit und Freiheit. Wir lernen, dass unsere Empörung über Ausspähaktionen zu kurz greift. Wir alle sind Teil des Systems und bleiben verantwortlich. So haben Bauman und Lyon mit diesem Buch eine Grundlage geliefert, jenseits der gegenwärtigen Aufgeregtheit umzudenken und nach Alternativen zu suchen.
Zygmunt Bauman und David Lyon: Daten, Drohnen, Disziplin. Ein Gespräch über flüchtige Überwachung
Suhrkamp, Berlin 2013
205 Seiten, 16 Euro
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