Offenbarung nie gesehener Zusammenhänge

Rezensiert von Dirk Lorenzen · 11.09.2006
Atome, Evolution, Raumzeit – das sind drei der zehn Kapitel in "Galileos Finger". Darin erklärt der britische Chemieprofessor Peter Atkins zehn Phänomene, die den Blick auf die Welt verändert haben. Komplizierte Zusammenhänge erläutert er in lockerem, leicht verständlichem Stil.
Dieses Buch beginnt mit einem Foto des Fingers von Galileo Galilei, der im Museum für Naturgeschichte in Florenz zu sehen ist. Peter Atkins zitiert aus der Beschriftung des etwas makabren Exponats:

"Schau nicht auf die Überreste eine Fingers herab, mithilfe dessen eine rechte Hand Wege in den Himmeln maß und den Sterblichen nie gesehene Gestirne offenbarte."

Für Peter Atkins markiert Galileo Galilei den Wendepunkt in den Naturwissenschaften: Weg von der Spekulation, dem reinen Nachdenken, hin zum Experimentieren, zum Beobachten. So wie Galilei und seine Zeitgenossen der Physik neue Wege gewiesen haben, so haben später andere die Chemie aus den Fängen der Alchemie befreit und die Biologie als Fach etabliert, das viel mehr ist, als eine Quelle des Staunens: "Zehn große Ideen der Naturwissenschaft", so der Untertitel des Buches, haben unsere Sicht auf die Welt in und um uns vollkommen verändert und mit ihrer Hilfe offenbart Peter Atkins seinen Lesern nie gesehene Zusammenhänge.

Eine große Idee ist für Peter Atkins "ein einfaches Konzept von großer Tragweite", gleichsam die "Eichel einer Vorstellung, die sich zu einem großen Baum von Anwendungsmöglichkeiten verästelt". Atkins persönliche Auswahl dieser zehn großen Ideen hat es in sich: Evolution, DNA, Energie, Entropie, Atome, Symmetrie, Quanten, Kosmologie, Raumzeit und Arithmetik heißen die jeweils etwa 50 Seiten langen Kapitel, die den Leser auf einen ebenso spannenden wie informativen Streifzug durch die Natur schicken.

Dabei deutet Atkins auf das Detail, den Atomkern, oder die DNA, und verweist zugleich auf das große Ganze, das Leben, das Universum. Jedem Kapitel ist der Kerngedanke in einem Satz vorangestellt. Das erleichtert dem Leser die Orientierung. So lautet im Kapitel "Entropie - Die Triebfeder des Wandels" der Kerngedanke "Aller Wandel ist die Folge des planlosen Sturzes von Energie und Materie ins Chaos", dem Kapitel "DNA - Die Rationalisierung der Biologie" steht der Kerngedanke "Das Erbgut liegt verschlüsselt in der DNA" voran.

Der Autor, Chemieprofessor an der Universität Oxford und erfolgreicher Autor populärwissenschaftlicher Bücher, wird oft für seine klaren, sprachlich wunderbaren Erklärungen selbst komplizierter Sachverhalte gelobt - zu Recht. Klaus Kochmanns Übersetzung aus dem Englischen ist auf ähnlichem Niveau und trifft genau diesen lockeren und doch sehr präzisen Stil.

Auch dieses Buch hat Passagen, in denen man besser den einen oder anderen Fachbegriff schon mal gehört hat. Doch selbst wenn man als Leser nicht jeden Absatz versteht, so stört das weder den Lesefluss noch das Verständnis des Buches. Man kann über viele recht wissenschaftliche Exkurse einfach hinweglesen, das geschieht wie von selbst.

Peter Atkins empfiehlt sogar, beim ersten Lesen die Passagen zu überspringen, die einem zu anspruchsvoll erscheinen. Doch am Ende eines jeden Kapitels staunt der Leser: Über die Natur, über eine der Grundideen, mit denen die Wissenschaftler sie beschreiben und über sich selbst, dass man plötzlich einen weiteren Aspekt der so kompliziert erscheinenden Welt verstanden hat.

Atkins erzählt von der Natur, sein Buch ist keineswegs gedruckte Vorlesung. Er beschreibt die Grundideen der Forschung, ihre Entstehung und Entwicklung. Einige Abbildungen erklären die dem Autor als zu abstrakt erscheinende Phänomene. Die zehn Grundideen bauen nicht aufeinander auf, aber erst zusammen formen sie wirklich unsere Sicht der Natur. Positiver Nebeneffekt für die Leser: Sie können die Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesen.

In einer wirklich begeisternden Darstellung bietet Sir Peter Atkins einen umfassenden Überblick, was nach aktuellem Wissensstand "die Natur im Innersten zusammenhält" und zum Abschluss wagt er einen Blick nach vorn, ob die fast schon mythische "Theorie für alles" wirklich zu erreichen ist.

Ein britischer Kritiker sieht in Peter Atkins schon den ersten Naturwissenschaftler, dem der Literaturnobelpreis verliehen wird. In Großbritannien ist das Buch seit seinem Erscheinen vor dreieinhalb Jahren geradezu ein Bestseller. Unfassbar, dass es so lange gedauert hat, bis dieses Buch auch den deutschen Lesern uneingeschränkt zur Verfügung steht. Aber besser spät als nie.


Peter Atkins: Galileos Finger: Die zehn großen Ideen der Naturwissenschaft
Aus dem Englischen von Klaus Kochmann.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006
526 Seiten, 25 Euro