Offenbachs gehobene Schätze

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 18.11.2011
Isaak Offenbach, ein Kölner Kantor des frühen 19. Jahrhunderts, steht natürlich im Schatten seines weltberühmten Sprösslings. Doch die musikalischen Wurzeln des Komponisten Jacques Offenbach liegen in den synagogalen Gesängen seiner Zeit, wie erstaunliche Archivfunde beweisen.
Es ist ein Wald aus Stein. Manche der Grabmale stehen schief, andere liegen geborsten und zerbrochen am Boden. Efeu kriecht über bröckelnde Grabeinfassungen. Es riecht nach feuchtem Laub, nach Erde, nach Moder. Der Friedhof ist verlassen. Bestattet wird hier schon lange nicht mehr. Der im 17. Jahrhundert eingeweihte Friedhof in Köln-Deutz ist einer der ältesten jüdischen Friedhöfe im Rheinland. Diese Begräbnisstätte ist ein kleines "Who is Who" der Rheinmetropole mit zahlreichen Berühmtheiten – auch wenn manche von ihnen heute längst vergessen sind.

Zu diesen Vergessenen gehört sicher auch der Mann, der unter einem verwitterten Stein nahe am Eingangstor ruht. Die hebräischen Lettern erzählen seine Lebensgeschichte: Er hieß Isaak Juda Eberst, war 1779 geboren worden und 1816 aus dem hessischen Offenbach nach Deutz eingewandert. Er heiratete dort Marianne Rindskopf, die Tochter eines Geldwechslers, erzählt der Kölner Musikwissenschaftler Professor Klaus Wolfgang Niemöller:

"1807 wurde dann mit Therese das erste von zehn Kindern geboren. Als Sänger in der Deutzer Synagoge, Unterhaltungsmusiker auf der Violine und auch als Buchbinder hatte er eine große Familie zu ernähren. 1816 zog er nach Köln, und hier ist dann eben am 20. Juni 1819 Jakob als siebtes Kind geboren worden."

Dieser Jakob, auf gut kölsch "Köbes" gerufen, wird sich eines Tages "Jacques" nennen und zu einem Komponisten von Weltrang werden. [Einspielung "Can Can"] Eine Musik wie Champagner: spritzig, fröhlich-perlend und ein bisschen frivol. Eine Musik, die im Sturm die französische Hauptstadt eroberte und die adligen und großbürgerlichen Salons in helles Entzücken versetzte.

So kennt die Welt die Musik von Jacques Offenbach, dem "Mozart der Champs-Elysées", dem gefeierten Schöpfer von Werken wie "Hoffmanns Erzählungen" oder "Orpheus in der Unterwelt." Und doch gerät bei all diesem Ruhm der Mann aus dem Blickfeld, der unter dem verfallenen Stein auf dem Friedhof in Deutz ruht: Der Vater Isaak Offenbach.

Um das Werk des berühmten Sohnes der Stadt Köln zu verstehen, muss man nach seinen musikalischen Wurzeln, nach seinem Vater Isaak fragen. Denn der war Kantor der Jüdischen Gemeinde zu Köln. [Einspielung "Lecha Dodi"] Vater Offenbach schrieb synagogale Gesänge wie dieses "Lecha Dodi", eine Hymne zur Begrüßung des Schabbats. Er war ein frommer, gottesfürchtiger Mann und ein begabter Komponist. Musikalisch war er, darauf weist Klaus Wolfgang Niemöller hin, tief in der synagogalen Musik seiner Zeit verwurzelt.

Professor Niemöller kann deshalb darüber so genau Auskunft geben, weil es ihm gelungen ist, eine 440 Mikrofilmseiten starke Sammlung handschriftlicher Kantorenbücher Isaak Offenbachs aus den USA zu bekommen – nachdem nämlich die Sammlung mit Handschriften von Isaak und Jacques Offenbach nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs unauffindbar war und das wohl auch noch lange bleiben wird.

Klaus Wolfgang Niemöller: "Als Musikwissenschaftler fand ich aber dann in unserem internationalen Quellenlexikon von 1989 einen dicken Band mit einem Verzeichnis der Handschriften mit hebräischen Melodien von Israel Adler, und hier finden sich also alle Melodien aus diesen 19 Mappen einzeln aufgezeichnet. Das ist vor allem aus der Sammlung Birnbaum. Der war Oberkantor in Berlin und hat bei seiner Emigration in die USA die Sammlung dieser alten Kantorenbücher mitgenommen. Sie sind heute in der Bibliothek der Hebrew University in Cincinnati und im Hebrew Union College in New York. Und hier nun fand ich alle diese Melodieanfänge und das hat mich so fasziniert, dass ich mich darum bemüht habe, an diese Noten heranzukommen. Es sind nicht weniger als 440 Seiten Mikrofilm, die ich dann bekommen habe."

Die Kantorenbücher, die Professor Niemöller schließlich einsehen konnte, belegen, dass Jacques und sein violinespielender Vater Isaak regelmäßig zusammen musiziert haben. Hier die Vertonung des "Ashamnu", eines Gebets, das an Jom Kippur gesprochen wird.

Schon in jungen Jahren assistieren Jakob und sein Bruder Juda dem Vater beim Gesang in der Synagoge. Der Vater selbst bringt Jakob das Violin- und Cellospiel bei.

Klaus Wolfgang Niemöller: "Mit elf Jahren war er ein so guter Schüler, dass er besser spielte als sein Cellolehrer, so dass er einen neuen Lehrer bekam. Und das war der Solocellist der Domkapelle, Bernhard Breuer. Und er verlangte für jede Unterrichtsstunde 25 Silberlinge und das war für einen Vater von zehn Kindern keine Kleinigkeit."

So müssen alle Offenbach-Kinder sehr früh mit Konzerten und öffentlichen Auftritten das Familieneinkommen aufbessern. Innerhalb der Kölner Musikwelt besteht zu dieser Zeit ein enges Netzwerk zwischen Domkapelle, musikalischen Gesellschaften und privaten Mäzenen. Diese für die Familie Offenbach glückliche Konstellation ist durch politische Umbrüche entstanden, denn die Jahrzehnte nach dem Sieg über Napoleon 1815 sind eine Blütezeit von Wissenschaft, Kultur und Kunst.

Klaus Wolfgang Niemöller: "Außer den politischen Umwälzungen gab es eben auch eine Erneuerung des Erzbistums in Köln 1821. Bis dahin war der Dom lediglich eine Pfarrkirche. Jetzt war er wieder Metropolitankirche und erhielt wieder eine Dommusik und die Inthronisation des Erzbischofs Ferdinand August Graf von Spiegelberg im Jahre 1825. Dabei wirkten 37 Sänger und 40 Instrumentalisten mit. Die Domkapelle war auch für die Familie Offenbach durch ihre einzelnen Mitglieder ein wichtiger Bezugspunkt, denn wir haben hier in Köln die enge Verbindung der Domkapelle auch mit dem öffentlichen Musikleben."

Die meisten Kompositionen, die wir von Isaak Offenbach haben, stammen aus dem Jahrzehnt von 1830 bis 1840. Meist sind es einstimmig gesetzte Stücke, nur in Ausnahmefällen sind sie zweistimmig. Und natürlich finden sich in diesen Melodien nicht nur unüberhörbare Anklänge an die Opernmusik dieser Zeit, sondern auch an die christliche Kirchenmusik.

Um diese Anklänge – vor allem aber um die Orgel, das typische Instrument christlicher Kirchenmusik in einer Synagoge – kommt es im 19. Jahrhundert innerjüdisch zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem orthodoxen und dem neu entstandenen Reformjudentum. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Ruf nach einer Reform des jüdischen Gottesdienstes immer lauter. Für die Reformer ist das Orgelspiel im synagogalen Gottesdienst ein Zeichen für Fortschritt und Modernität; die Orthodoxen dagegen betrachten die Orgel als Symptom einer fortschreitenden "Christianisierung" des Judentums.

In diesem Streit stehen sich "Örgler und Nörgler", wie sie genannt werden, lange Zeit unversöhnlich gegenüber. In der Kölner Synagoge gibt es zu der Zeit natürlich auch keine Orgel.

Klaus Wolfgang Niemöller: "Stattdessen aber hat, und das ist meine These, Isaak Offenbach dort auch Violine gespielt."

Das musikalische Schaffen Isaak Offenbachs bildet eine geglückte Verbindung zwischen den synagogalen Gesängen dieser Zeit, der Opernmusik und seinen ganz eigenen Kompositionen. Mit seinem Leben und Wirken, so Professor Niemöller, sei er aber auch ein Bespiel für das ehemals bestehende fruchtbare Miteinander der Kulturen und Konfessionen in der Musikkultur des Rheinlands.
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