Ökonom Felwine Sarr

Die Chance, mit informeller Wirtschaft zu wachsen

Achille Mbembe und Felwine Sarr bei der Eröffnung ihres "Atelier de la Pensee", einem Forum für afrikanische Intellektuelle
Felwine Sarr (r.) und Achille Mbembe bei der Eröffnung ihres "Atelier de la Pensée", ein Forum für afrikanische Intellektuelle. © dpa / MAXPPP / Elise Fitte-Duval
Von Sigrid Brinkmann · 18.05.2018
Raus aus der ökonomischen und gedanklichen Dominanz des Westens – das fordern afrikanische Intellektuelle wie Felwine Sarr und Achille Mbembe. Sarr träumt von einem Afrika, das seine Stärken Menschlichkeit und Gemeinschaftssinn selbstbewusst einsetzt.
Seit anderthalb Jahren besucht Felwine Sarr Hochschulen in Afrika, aber auch andere Weltgegenden, um zu diskutieren, wie afrikanische Gesellschaften sich aus der ökonomischen und gedanklichen Dominanz des Westens lösen können. Achille Mbembe, Philosoph und Historiker aus Kamerun, ist ein namhafter Verbündeter.
Die beiden afrikanischen Intellektuellen organisieren Konferenzen und Werkstattgespräche, um das Selbstwertgefühl junger afrikanischer Akademiker zu stärken. Zu tief verankert, so Felwine Sarr, sei in ihrem Denken noch immer die westliche Vorstellung eines kontinuierlich sich vollziehenden gesellschaftlichen Fortschritts und einer Zukunft im Singular. Der 45 Jahre alte Ökonom Sarr, der auch beim diesjährigen Theatertreffen in Berlin zu Gast war, spricht von ihr nur im Plural.
"Südafrika ist ein interessantes Experimentierfeld. Der Wille, Gesellschaftsverträge neu zu definieren, ist dort sehr ausgeprägt. Der Senegal ist ein Kreuzungspunkt der schwarzafrikanischen Kultur: Sie integriert die islamischen und westlichen Einflüsse, die im Senegal nachhaltig wirken. Äthiopien und Ruanda gehen interessante Wege. Ghana, das sich 1957 als erstes afrikanisches Land von der britischen Kolonialherrschaft löste, steht wirtschaftlich gut da. Aber die wichtigste Ressource überhaupt ist die ungeheuer vitale Jugend, die ihr Schicksal in die Hand nehmen will."

Zukunftslabor Afrika

Afrika als ein großes, eher schemenhaftes Zukunftslabor zu betrachten, das hat etwas ebenso Verführerisches wie Beängstigendes, denn fehlschlagen sollten die Versuche, ein gerechtes gesellschaftliches Miteinander zu gestalten, nicht.
"Man soll nichts prophezeien. Demografische Entwicklungen und wirtschaftliche Trends lassen sich ziemlich genau berechnen, aber wo Gesellschaften andere Wege einschlagen, das ist eine extrem schwer zu beantwortende Frage."
Alphabetisierungsklasse für Ringer im Senegal.
Bildung ist für Felwine Sarr der Schlüssel zu einem erfolgreichen Aufbrauch Afrikas. Alphabetisierungsklasse für Ringer im Senegal.© deutschlandradio / Barbara Schmickler
Bei seinen Reisen durch Afrika trifft Felwine Sarr hauptsächlich junge Menschen. Viele empfinden sich als Einzelkämpfer. Die große Aufgabe, Initiativen zu verbinden und ein übernationales afrikanisches Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, ist nicht ohne den Aufbau von Netzwerken zu haben. Auch dafür braucht es Bildung. Sie hat für Sarr höchste Priorität. Ohne Bildung werde es der Jugend nicht gelingen, zu begreifen, was das Spezifische und Wertvolle des afrikanischen Bürgersinns ist.
"Das 'Ich' und das 'Wir' muss man immer mit einem Bindestrich denken. Solidarität hindert einen nicht daran, sich als Individuum zu entwickeln und sich einzigartig zu fühlen. Die jungen Afrikaner sind fähig, das Anderssein einzubinden, und sie müssen diese Stärke noch viel selbstbewusster vertreten. Die Einwanderung nach Europa wirft die Frage nach der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft auf. Wer ist mein Mitmensch, wer ein Fremder? Ich denke, die Afrikaner haben zur Klärung dieser Fragen etwas beizutragen."

60 Prozent leben von der informellen Ökonomie

Afrikanische Gesellschaften gründen sich für Felwine Sarr auf die tief verwurzelte Fähigkeit, zwischenmenschliche Beziehungen zu knüpfen. Sechzig Prozent der Menschen leben von der so genannten informellen Wirtschaft – also von Tauschgeschäften. Sarr nennt sie "relationelle Ökonomie". Was im Kleinen funktioniert, sollte institutionalisiert werden. Am Beispiel der im Senegal wirtschaftlich erfolgreichen Sufi-Bruderschaft der Murīdīya wird für den Ökonom Sarr deutlich, dass eine Gesellschaft den Handel ihrer Lebensform anpassen und daran wachsen kann.
"Für Gegenseitigkeit zu sorgen, das ist die große Herausforderung. Mehr Menschlichkeit zu zeigen, Nachbarn zu helfen, Bedürftige zu unterstützen, das geschieht im Senegal so selbstverständlich, dass man darüber nicht einmal mehr Worte verliert."
Frauen auf einem Markt in Touba, Senegal.
Frauen auf einem Markt in Touba, Senegal.© imago/Xinhua
In seinen Vorstellungen von einem Kontinent selbstbewusster Afrikaner springt Felwine Sarr zwischen anschaulichen Beispielen und eher theoretischen Beschreibungen möglicher Zukunftsformen hin und her. Dass derzeit in einigen europäischen Ländern das Erbe des Kolonialismus kritisch betrachtet wird, erweitert den Radius, in dem potenzielle Verbündete für das Verfassen neuer Gesellschaftsverträge gefunden werden können. Für Sarr steht fest, dass man neue Arten des Zusammenlebens nur mit allen gestalten wird – mit allen Gutwilligen.
"On fera ce monde avec tout le monde, toutes les bonnes volontés qui veulent qu’on construise une nouvelle manière d’être ensemble."
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