Öffentlicher Raum

Der Kampf um die Bürgersteige

28:08 Minuten
Zahlreiche E-Scooter stehen auf dem Pariser Platz und stören den freien Blick auf das Brandenburger Tor.
E-Scooter in Berlin vor dem Brandenburger Tor: Ärgernis und Hindernis im öffentlichen Raum © imago images / Stefan Zeitz
Von Beate Krol · 01.09.2020
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Überall E-Scooter, Leihfahrräder, Warenständer, Restauranttische und Sperrmüll - und mittendrin Autos, Radfahrer und Fußgänger. Es gibt immer weniger Platz in deutschen Städten, Straßen und Plätze werden zu Kampfzonen.
Ein Dienstagabend im Berliner Quartier Schöneberg-Nord. Die Bezirksbürgermeisterin hat zum Bürgercafé in den Nachbarschaftstreffpunkt Huzur eingeladen. Große Kugellampen tauchen den Versammlungsraum in warmes Licht. Etwa 40 Frauen und Männer sitzen an zusammengeschobenen Tischen und diskutieren. Es geht um die Ergebnisse des Bürgerrats. Das von der Verwaltung per Zufallsgenerator ausgewählte Gremium hat sich zwei Tage lang Gedanken über die Zukunft des Kiezes gemacht. Auf der Bühne wandert das Mikrofon von Gruppe zu Gruppe.
"Unser Thema ist die lebenswerte Umgestaltung des öffentlichen Raumes."
"Wir hatten das Thema, dass wir nicht-kommerzielle Begegnungsorte für alle schaffen wollen."
"Unsere Kernbotschaften sind: weg von dieser Fokussierung aufs Auto. Hin zu mehr Radverkehr und Erleichterungen für Fußgänger."
"Unser Thema war die Durchsetzung der Regeln im öffentlichen Raum."
Gut 50.000 Einwohner leben in dem Quartier – der Bürgerrat hat sechs wichtige Themen ausgemacht. Vier davon betreffen den öffentlichen Raum. Das ist kein Zufall. In den vergangenen Jahren ist die Bevölkerungszahl im Schöneberger Norden gestiegen. Das heißt: Mehr Menschen müssen sich den öffentlichen Raum teilen. Und das hat Folgen.
"Als die Einladung kam, habe ich tatsächlich sofort an das Thema öffentlicher Raum gedacht, weil jeden Tag, wenn ich durch die Straßen gehe, regt es mich einfach auf. Weil ich finde, dass der Autoverkehr und parkende Autos einfach überproportional sehr viel Platz wegnehmen und die Stadt praktisch wie eine Durchfahrtstraße wirkt."
"Ich habe auch sofort an den öffentlichen Raum gedacht, weil ich hab' zwei kleine Kinder und bin auf Spielplätzen unterwegs. Außerdem denke ich auch viel an die Begrünung und habe ein bisschen Sorge, dass wir dann auch im Anbetracht des Klimawandels vielleicht in ein paar Jahren uns sehr ärgern werden, dass wir die schönen Bäume, die bei uns überall in den Straßen stehen, so vernachlässigt haben."
"Ich habe mich sehr über die Einladung gefreut, weil in der Bautzener Straße viele Häuser gebaut worden sind. Es sind viele Menschen hinzugezogen, die auch alle ein Auto haben. Und es ist aggressiver geworden aufgrund dieser Situation."

Die Grenze scheint erreicht zu sein

Seit etwa 30 Jahren nimmt die Nutzung des öffentlichen Raums von großen und attraktiven Städten zu. Lange ging das gut. Doch in letzter Zeit scheint eine Grenze erreicht zu sein. Zu viele erheben Anspruch auf den öffentlichen Raum und geraten dabei aneinander: Anwohner und Touristen, Autofahrer und Fußgänger, Rad- und E-Scooter-Fahrer, Restaurantbetreiber, Einzelhändler und Verleihfirmen.
Klaus Selle war bis vergangenes Jahr Professor für Planungstheorie und Stadtentwicklung an der Technischen Hochschule Aachen:
"Wenn man jetzt mal über alles guckt, über ganz Deutschland guckt, über den ländlichen Raum, über die Vororte und die Innenstädte, dann kann man natürlich sagen: Es ist sehr viel offener Raum da. Wenn man aber fragt: Wo sind denn die attraktiven Zonen in einer Stadt und wer will dort hin und wer will sich dort aufhalten? Dann wird es sehr schnell sehr eng im Wortsinne."
Im Norden des Berliner Stadtteils Schöneberg ist das an mehreren Stellen zu spüren. Am Winterfeldplatz, der in vielen Reiseführern steht, tobt am Wochenende bis spät in die Nacht das Leben. Ein paar Straßen weiter leiden die Bewohner unter einem Straßenstrich, durch den die Sextouristen kurven.
Auch die schmale Bautzener Straße steht unter Druck. An ihr lag einst ein kleines Gewerbegebiet mit selbst gemauerten Werkstätten, vor denen ausrangierte Gartenstühle standen. Heute stehen fünfstöckige Häuser dort, die 297 Wohnungen, einen Supermarkt, ein Fitnessstudio und eine Kita beherbergen. Zu Stoßzeiten verwandelt sich die gerade mal 500 Meter lange Straße mit den engen Bürgersteigen und alten Platanen in eine Kampf- und Drängelzone. Alle wollen durch oder – was fast noch schwerer ist – parken. Nutzungskonkurrenz heißt das auf Stadtplaner-Deutsch.
"Da die Nutzungsintensität erheblich zugenommen hat und wir tatsächlich auch mit den Fahrradfahrern und jetzt mit den E-Scootern noch mal ganz andere Nutzer neben den Fußgängerinnen und Fußgängern haben, ist eine Nutzungskonkurrenz einfach da. Und wir dürfen nicht vergessen, dass wir ja immer noch auch den Verkehr, also den fließenden Automobilverkehr haben, der sehr viel Fläche in Anspruch nimmt, und alles zusammen führt zu einer erheblichen Konkurrenz bis hin zur Gefährdung der verschiedenen Verkehrsteilnehmer, wobei die, die nicht im Auto sitzen, immer besonders gefährdet sind."

Tatsächlich ist der fahrende und stehende Verkehr das größte Problem, wenn es um eine gerechtere Nutzung der öffentlichen Räume geht. Fast 65 Millionen Fahrzeuge sind zurzeit in Deutschland unterwegs. Natürlich nicht alle in verdichteten Städten. Viele aber eben doch. Dass es auf den Straßen und an den Straßenrändern immer voller wird, ist also nicht bloß ein Gefühl. Und es kommen immer mehr Autos hinzu. Das lässt Böses ahnen. Wolfgang Aichinger leitet den Berliner Thinktank "Agora Verkehrswende":

"Ganz oft ist es so heute, nicht mal Rettungsdienste kommen mehr durch, Müllfahrzeuge, werden wirklich durch Falschparken behindert. Und die Praxis ist so lasch, das wird nicht geahndet. Also man kapituliert mehr oder weniger vor dieser zunehmenden Zahl an Kfz - jedes Jahr eine Million mehr – und traut sich offenbar nicht, dem entgegenzuhalten, dass es nicht möglich sein wird, alle Kfz unterzubringen im Straßenraum. Man traut sich auch nicht, klar zu machen, dass es gar nicht legal ist, was hier passiert. Man duldet das einfach."

Überholte Gesetze verschärfen die Lage

Die Kapitulation vor der Übermacht des Verkehrs hat seinen Preis. Die Stimmung im öffentlichen Raum wird aggressiver. Und überholte Gesetze verschärfen die Lage noch.

Aichinger: "Wir sind in Deutschland dazu gekommen, gerade in der Nachkriegszeit mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte, dass man Verkehr als die wichtigste Nutzung im öffentlichen Raum definiert hat und auch alles andere erst mal untergeordnet hat. Also man hat wirklich geguckt, dass man schnell, zügig, ohne Störungen von A nach B kommt mit dem Auto. Und das hieß dann, erst mal auch andere Verkehrsarten an den Rand zu drängen, also Fußgänger, Radfahrer hinter Drängelgitter oder wie auch immer."

Die Straßenverkehrsordnung, die weite Teile des öffentlichen Raums in Deutschland regelt, stammt von 1934. Seitdem ist sie zwar immer wieder verändert worden, der motorisierte Verkehr ist jedoch nach wie vor allen anderen Bedürfnissen übergeordnet. Und so liest sich die Straßenverkehrsordnung auch: Fußgänger haben Fahrbahnen zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung zu überschreiten."
An Kreuzungen und Einmündungen sind "vorhandene Fußgängerüberwege oder Markierungen an Lichtzeichenanlagen stets zu benutzen". Fahrräder haben einzeln hintereinanderzufahren.

Aichinger: "Die Straßenverkehrsordnung ist ungerecht in dem Sinne, dass sie einfach ignoriert, dass ganz viele Leute eben nicht mit dem Auto unterwegs sind. Und es ignoriert auch, dass es eben ganz viele andere Ansprüche gibt an einen öffentlichen Raum. Aber man liest das und interpretiert das dann in der Praxis häufig als die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs. Auf einer Kreuzung muss man dann eben zügig abbiegen können und die Wartezeiten sollen nicht so lang sein."
Auch der sogenannte Gemeingebrauch steht einer gerechteren Aufteilung des öffentlichen Raums entgegen. Das Prinzip, das in den Straßengesetzen der Länder verankert ist, meint: Man muss für den öffentlichen Raum nicht bezahlen. Davon profitiert beispielsweise der Lieferverkehr.
"Man sieht da auch: Ist eine neue Nutzungsform, die war vor zehn Jahren noch nicht so ausgeprägt, und kommt jetzt auch jedes Jahr noch mehr in die Städte rein und auch da kann man niemanden jetzt davon erst mal abhalten, zu sagen: Du darfst hier nicht liefern. Das ist im Rahmen von diesem Gemeingebrauch. Und Autos abstellen auch und Fahrräder abstellen auch und Rumfahren sowieso. Das ist wirklich eine sehr große Fülle an Möglichkeiten, die der Verkehr hier hat, und wiederum aus Steuerungssicht, aus städtischer Sicht, heißt das: Man hat sehr wenig in der Hand, um da tatsächlich einzugreifen."

Der Gemeingebrauch gilt auch für das Parken. In Deutschland ist das Abstellen von Autos im öffentlichen Raum grundsätzlich erlaubt und meist kostenfrei. Falls Kommunen eine Parkraumbewirtschaftung einführen, hat der Bund einen Höchstpreis festgesetzt: Maximal 30,70 Euro darf ein Anwohnerparkausweis im Jahr kosten. Die Folge: Kostenpflichtige Stellplätze in Wohnhäusern stehen leer.

Auch das Falschparken ist in Deutschland billig: gerade mal 20 Euro für ein Knöllchen. Die Gefahr, dass man beim Falschparken erwischt wird, ist äußerst gering, weil den Ordnungsämtern Personal fehlt. So sind Straßenränder, Kreuzungen, Haltstellen und Lieferzonen immer mehr zugestellt. Und die Stimmung wird gereizter, sagt Martin Hikel. Er ist Bezirksbürgermeister in Berlin-Neukölln:

"Ich nehme wahr, dass der Ton irgendwie sehr rau geworden ist. Ich sag mal, hat man früher bei Berliner Schnauze davon gesprochen, dass man ruppig ist, aber es war auch immer was Herziges drunter, was so mitschwingt. Das wird, glaube ich, heute damit verwechselt, dass man bloß noch ruppig ist, aber nichts Herziges mehr mitkommt. Und das hat für mich nichts mit Berliner Schnauze zu tun. Auch wenn Leute sich auf der Straße anbrüllen, sich anhupen, wenn ein Radfahrer ein Autofahrer anpöbelt, weil er sich bedrängt gefühlt hat und umgekehrt der Autofahrer einen totalen Hass auf die Radfahrer hat."
Der 330.000-Einwohner-Bezirk Neukölln ist stark verdichtet und jedes Jahr kommen durchschnittlich 1000 Einwohner hinzu. Nicht nur Auto- und Radfahrer geraten in dem Bezirk aneinander. Auch auf den Bürgersteigen mehren sich die Konflikte. Auf Gehwegen müssen mindestens anderthalb Meter frei sein, damit Menschen mit Kinderwagen, Rollstühlen und Rollatoren sie gefahrlos benutzen können. So zumindest die Theorie. In der Praxis scheren sich die Bürger wenig darum.
In der Lenaustraße im angesagten Reuterkiez finden sich auf gerade mal 100 Metern: etliche Fahrräder, Leihräder und Motorräder, ein leerer Farbeimer, eine Plastiktasche mit Einwegglas und ein Karton mit Altkleidern, die Werbetafel eines Weinhändlers, ein Bauschuttcontainer und Holzpaletten, mehrere voll besetzte Café-Tische und eine selbstgezimmerte Bank um einen Straßenbaum.
Diese Mischung setzt sich bis zum Neuköllner Rathaus fort. Ein Antiquariat hat Bücher nach draußen gestellt, ein Schreibwarengeschäft drei Container mit Aktenordnern, Plastikmappen und Schreibblöcken. Nagelstudios und Handyshops haben den Gehweg mit Werbeaufstellern gepflastert. Vor jedem Café und jedem Imbiss stehen Tische. Für Bezirksbürgermeister Martin Hikel sind diese vielen Sondernutzungen Fluch und Segen zugleich.
"Zum einen möchten wir, dass der öffentliche Raum auch belebt wird. Und das heißt, wenn Gastronomie außen Dienstleistungen anbietet, ist das ja erst mal gut, weil der öffentliche Raum belebt wird. Auf der anderen Seite tendiert das natürlich auch dazu, dass diese Nutzung über das notwendige Maß hinaus stattfindet. Also nachts auch stattfindet, dann gibt es Lärmbeschwerden, oder dass die Tische dann im Alltag sich dann doch verrücken, über den gesamten Fußweg stehen, man kommt nicht mehr barrierefrei durch."
Parkende Autos in Wiesbaden. In einer Straße stehen links und rechts Autos.
Parken ist in Deutschland im öffentlichen Raum meist kostenfrei. © imago/Michael Schick

Die Konflikte werden zunehmen

Der Kampf um den Bürgersteig wird sich vermutlich weiter verschärfen. Und das nicht nur in Neukölln. Der Trend zum Online-Shopping hat die ersten Lieferroboter hervorgebracht. Die Post baut Mikroverteilzentren auf, Finanzdienstleister machen den Bürgersteig zum Warteraum ihrer Geldautomaten. Und auch Ladesäulen für Elektroautos brauchen Platz. Ricarda Pätzold ist Raumplanerin am Deutschen Institut für Urbanistik.
"Die große Soziologin Jane Jacobs hat über den Bürgersteig geschrieben, dass das eben der verbindende und der wichtige Ort ist, weil sich dort das Viertel im Prinzip trifft, also sie hat das auch als einen zentralen Ort beschrieben, mit dessen Funktionsfähigkeit sehr viel soziales Leben verbunden ist. Also weil man eben über diese Bürgersteigkontakte, die man da knüpfen kann mit dem Gewerbetreibenden, natürlich auch ein Stück das Gefühl der sozialen Kontrolle vermittelt bekommt und sich einfach sicher fühlt. Und das ist so eine Kernfunktion auch."
Heute wird diese Kernfunktion häufig von der sogenannten Kommodifizierung verdrängt; der Bürgersteig wird zum Ort für Waren. Auch eine andere Besonderheit des öffentlichen Raums droht verloren zu gehen. Da er aus öffentlichen Geldern finanziert ist, steht er eigentlich allen Bürgern gleichermaßen zu – Armen wie Reichen, Jungen wie Alten, Einheimischen wie Touristen: In der Praxis sieht das anders aus. Felicitas Hillmann ist Professorin für die Transformation städtischer Räume an der Technischen Universität Berlin.
"Ich denke schon, man kann sagen, dass man im öffentlichen Raum eine Entmischung sieht. In Städten wie Berlin oder in den Großstädten insgesamt hat sich die Zusammensetzung der Bevölkerung sehr stark verändert. Dass wir viel weniger Wohnbevölkerung haben, sehr viel mehr Arbeitsbevölkerung, die andere Infrastrukturen auch nachfragt natürlich. Wir haben hochpreisiges Wohnen – das können sich nicht alle leisten. Das heißt, wir gewöhnen uns auch daran, dass wir bestimmte Gruppen nicht mehr so im Stadtraum sehen."

Steigende Mieten erhöhen den Druck

Der Kampf um die Neuköllner Bürgersteige begann, als die Gewerbemieten stiegen. Auch die höheren Wohnungsmieten führen dazu, dass es draußen voller wird.

Hillmann: "Was wir wissen ist, dass die Leute dazu neigen, sich zu verdichten in der Wohnung, das heißt, bevor sie ihren Kiez verlassen, ihren Stadtteil, rücken sie näher zusammen, machen so Lösungen mit Untervermietungen und so weiter – das führt natürlich dazu, dass man irgendwo anders mehr Raum braucht, wenn man sich treffen will. Dann muss man rausgehen, weil das Wohnzimmer nicht groß genug ist. Das heißt, was wir sehen, ist eigentlich eher die stärkere soziale Spaltung der Gesellschaft. Wer kann es sich leisten, unter sich zu bleiben? Und wer geht nach draußen?"
Wer ein Haus mit Garten oder eine großzügige Vier-Zimmer-Wohnung hat, macht es sich dort mit Freunden und Familie gemütlich. Wer mit zwei Kindern auf 60 Quadratmetern wohnt, zieht in den öffentlichen Park oder ins Café.
Doch nicht alle können es sich leisten, ihren Aufenthalt im öffentlichen Raum zu bezahlen. Deshalb setzt eine Verdrängung ein: Die attraktiven und teuren öffentlichen Räume nutzt die Mittelschicht, die weniger attraktiven ohne Konsumzwang bleiben für die sozial Schwächeren übrig. Der Historiker Christoph Bernhard findet das bedenklich. Er ist stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für raumbezogene Sozialforschung.

"Das ist nun auch ein hohes Gut, nämlich der freien Bewegung und Nutzung im öffentlichen Raum. Das ist ja keineswegs selbstverständlich. Und auch des Schutzes des Individuums vor ungerechtfertigten Kontrollen im öffentlichen Raum. Also diese Freiheit der Benutzung des öffentlichen Raums ist erst mal eine große Errungenschaft auch bürgerlich-demokratischer Bewegungen."
Das Idealbild des öffentlichen Raums ist die griechische Agora. In der athenischen Demokratie trafen sich hier die Bürger, um über Steuern, Kriegseinsätze und die Besetzung wichtiger Ämter zu entscheiden. Allerdings stand dieser öffentliche Raum nur den männlichen Bürgern mit Stadtrecht offen. Christoph Bernhard warnt deshalb davor, die Agora als Vorbild für den öffentlichen Raum zu mystifizieren. Der eigentliche Ursprung des öffentlichen Raums sei vielmehr die Französische Revolution.
"Vor der Französischen Revolution gibt es eine Zweiteilung sehr, sehr grob gesagt, es gibt die Städte mit ihren städtischen Freiheiten, da sind öffentliche Räume wie zum Beispiel ein Marktplatz in der Verfügungsgewalt des Magistrats, also der städtischen Verwaltung, und dann gibt es natürlich auch die Landesherren, die Fürsten, zu denen auch Städte und Dörfer natürlich gehören und die ihre eigene Rechtsaufsicht und Bestimmungsgewalt über Straßen und öffentliche Räume ausüben. Und die Französische Revolution markiert da einen Einschnitt, weil sie das Privateigentum schützt vor Willkür von Landesherren und damit auch die öffentlichen Räume anders und klarer definiert. Und es kommt etwas sehr Praktisches hinzu, nämlich das Katasterwesen, die genaue Vermessung, überhaupt mal die genaue Feststellung: Was ist denn öffentlich und was ist privater Raum?

Die Willkür im öffentlichen Raum

Diese Errungenschaft ist heute in Gefahr. Diesmal allerdings geht die Willkür im öffentlichen Raum von Bürgern und privaten Firmen aus. Den Neuköllner Bezirksbürgermeister Martin Hikel ärgert das.
"Wenn Sie fünf oder zehn Leihräder eines Anbieters haben, dann kann man schon sagen: Das ist eine massive Fehlnutzung des öffentlichen Raumes, weil ist ja eine riesige Werbefläche. Die steht für diese privaten Leihräder zur Verfügung, aber nicht für das Privatfahrrad und auch nicht für den Bürger, der da langlaufen möchte. Und da stellt die Öffentlichkeit, die öffentliche Hand Flächen zur Verfügung, die von kommerziellen Anbietern genutzt werden mit dem Ziel Gewinn zu machen."
Auch privater und gewerblicher Müll landet immer häufiger im öffentlichen Raum. Nach dem Motto: Die Kommune wird es schon entsorgen. Martin Hikel findet die Orte auf dem Stadtplan sofort.
"Hier sehen Sie eine Grünfläche, da wohnen also wenig Menschen. Und das heißt, dort fahren viele nachts durch und schmeißen ihren Müll ab. Hier ist so ein Autoverleiher, wo man auch weiß, wenn die Umzüge mitgemacht haben, hatten wir früher oftmals, dass dann besonders viele Reste von irgendwelchen Wohnungen dort zu finden waren. Und das ist wiederum auch eine Fehlnutzung der Allgemeinheit. Wenn ich privaten Gewinn abschöpfe und der basiert darauf, dass ich mir die Gebühren gespart habe. Also das ist schon ein Stück weit pervers."

Das Müll-Problem haben viele Städte. Im Kampf dagegen gilt Neukölln bundesweit als Vorbild. Der Bezirk hat eigene Waste Manager eingestellt. Außerdem gibt es sechs Kiez-Hausmeister und Sperrmüllpartys, bei denen Anwohner alles rausstellen dürfen, was sie loswerden wollen. Haben alle den Sperrmüll der anderen auf Brauchbares untersucht, transportiert das städtische Müllunternehmen den Rest auf Bezirkskosten ab. Außerdem versucht der Bezirk, Café- und Kiosk-Besitzer für ein Mehrwegsystem zu begeistern. Denn auch die To-go-Kultur kostet. Die Mülleimer sind schneller voll und die Straßen müssen häufiger gekehrt werden. Auch die Verkehrswende treibt der Bezirk voran. Zum Beispiel an der Karl-Marx-Straße, eine von drei Hauptverkehrsachsen.

Verkehrsberuhigung in Neukölln

Neukölln hat einen großen Teil der vierspurigen Automagistrale in eine zweispurige Straße mit breiten Bürgersteigen verwandelt. Zehn Jahre haben die Bauarbeiten gedauert. Direkt daneben liegt der inzwischen autofreie Alfred-Scholz-Platz, den die Stadt für Veranstaltungen und Straßenfeste nutzt. Vor dem Café auf dem Platz verteilt eine junge Frau Flyer mit Freizeit- und Bildungsangeboten eines Nachbarschaftszentrums. Sie ist ganz in der Nähe geboren und verfolgt genau, wie sich die Karl-Marx-Straße wandelt.
"Als Kind war das schon lauter meiner Erinnerung nach und viel los. Jedenfalls ist nach den Bauarbeiten und nachdem die Straßen auch schmaler geworden sind, ist es auch viel ruhiger. Und mitten auf der Straße singen Menschen und dann tritt man auch zusammen und schaut sich das an."
Ein anderer Ort, den die Anwohner zurückerobert haben, ist der Böhmische Platz. In der Mitte stehen zwei Tischtennisplatten und viele Bänke. Wo früher Autos fuhren, kurven Kinder auf Fahrrädern herum. Dem Falschparker-Problem rückt der Bezirk zu Leibe, indem er an den Einmündungen von Kreuzungen Fahrradbügel aufstellt. Gut zweitausend sind seit 2018. Für Autos ist so kein Platz mehr und das Ordnungsamt muss noch nicht mal kontrollieren. Weitere dieser verkehrslenkenden Eingriffe sollen folgen. Martin Hikel hofft, dass das die Stimmung im öffentlichen Raum verbessert. Und langfristig mehr Menschen aufs Rad umsteigen.
"Wenn ich als Radfahrer überall das Gefühl habe, ich werde bedrängt, und als Autofahrer überall das Gefühl habe, es kommt hier gleich ein Radfahrer um die Ecke geschossen. Und ich werde auch meines Lebens nicht mehr glücklich, wenn da was passiert, da erhöht natürlich den Stress. Und wenn man da ganz klare Orte hat – wer hat eigentlich wo seinen Platz in der Stadt, wo es früher egal gewesen ist, aber wo man heute halt umplant – dann bringt es mit Sicherheit etwas Klarheit. Und Klarheit bringt auch immer etwas Ruhe."
Doch wie bringt man Menschen dazu, wieder mehr Verantwortung für den öffentlichen Raum zu übernehmen? Ihn nicht einfach gedankenlos zu nutzen? Die Frage stelle sich besonders für so genannte mobile Gruppen, sagt Transformationsforscherin Felicitas Hillmann.
"Das sind alle die, die den Stadtraum nutzen, aber dort nicht leben. Das heißt, die nehmen die Infrastruktur, die da ist, Parks, öffentliche Räume, eben auch in anderer Weise in Anspruch. Fühlen sich dafür auch nicht so verantwortlich, weil sie ja wieder weggehen. Hauptsächlich sind das die Touristen, aber es sind auch die, die kürzer in der Stadt leben, die in Ferienwohnungen über längere Zeit sind, zum Beispiel. Und wenn ich da nur vorübergehend bin, habe ich ja gar nicht die Chance, das länger zu pflegen, sondern das ist wie eine Einweggeschichte, das ist was, was ich wegwerfen kann. Und es wird ja auch suggeriert: Man kommt einmal an den Ort, man erlebt den und man konsumiert ihn eigentlich."


Auch bei vielen Nutzern von E-Scootern findet sich diese gedankenlose Konsumhaltung. Ist man am Ziel angekommen, lässt man ihn einfach mitten auf dem Bürgersteig stehen. Einheimische treibt das schnell auf die Palme. Andererseits zeigt sich an den E-Scootern auch: Der öffentliche Raum kann gegen Fehl- und Übernutzung verteidigt werden. Weil die Firmen Angst um ihr Geschäftsmodell hatten, haben sie strengere Nutzungsbedingungen erlassen. Ein wenig Druck scheint also nötig zu sein, damit das Zusammenleben funktioniert. Das sieht auch Ricarda Pätzold vom Deutschen Institut für Urbanistik so.
Auf einer Straße in Berlin liegen mehrere umgekippte Elektroroller und Leihräder.
Vom Wind umgekippte Elektroroller und Leihräder in Berlin.© picture alliance/dpa/Geisler-Fotopress/Thomas Bartilla
"Wenn sich mehr Leute ein Gut teilen, werden die Regeln wichtiger. Und die müssen trainiert werden. Das allerdings stelle ich mir nicht so vor, dass es eine Vollversammlung gibt, und dann beschließt man mal, wie es zu sein hat, sondern in Kopenhagen hat irgendwer mal angefangen, andere Zeichen als nur das Abbiegezeichen für Fahrräder zum Beispiel zu etablieren. Dass man eben die Hand hochhält, wenn man anhalten will. Und genauso gibt es eben andere Codes, die in der Stadt wieder um sich greifen müssten. Weil, es machen ja alle mit. Das wäre dann eine Art Flashmob. Irgendwann spricht es sich rum."
Außerdem müsse man sich trauen, andere auf ein Fehlverhalten aufmerksam zu machen. Ein bisschen wie der alte Opi von früher, der mit dem Stock gedroht hat. Den will die Raumplanerin zwar nicht wiederhaben, aber über alles hinwegzusehen, ändere eben nichts.
Pätzold: "Errege kein Aufsehen und ziehe keinen Groll auf dich – aber mit jeder weiteren Nicht-Sanktionierung im Prinzip also jedes Mal, wenn man schweigt, ist es wieder ein Schritt weiter in dieser Duldung dieses Verhaltens. Insofern heißt es, ja, Appell an jeden Einzelnen: nicht nur keinen Müll wegzuwerfen, sondern auch aufmerksamer auf die Umgebung einzugehen. Ich glaube, anders wird es nicht gehen."
Andernfalls, so die Stadtplanerin, nehme die Unzufriedenheit weiter zu. Das könnte in einer übermäßigen Kontrolle münden. Ähnlich wie in China, wo ein Punktesystem erfasst, wie sich Menschen im öffentlichen Raum verhalten. Keine verlockenden Aussichten. Dann lieber Diskutieren und Streiten. So wie beim Bürgercafé in Schöneberg-Nord.
Die Flipchart-Papiere auf den Tischen sind übersät mit bunten Post-its. Eine Runde hat sich mit den Regeln für ein gutes Zusammenleben im öffentlichen Raum beschäftigt. Sie hat vor allem das Feld mit Problemen ausgefüllt: Sie reichen von nächtlichen, lauten Kneipenbesuchern und Sextouristen über zugeparkte Halteverbote bis zu verdreckten Spielplätzen. Als Lösung schlägt die Gruppe mehr Personal für Polizei und Ordnungsamt vor und selbst aktivwerden: "Nicht wegsehen" steht auf einem Zettel. Andere Teilnehmer wollen Straßenfeste und Müllsammel-Aktionen organisieren. Und die alten öffentlichen Wasserpumpen sollen wieder funktionieren, damit die Bürger in heißen Sommern die Stadtbäume leichter gießen können. Die Verkehrswende-Gruppe will mehr Radwege, Bordsteine absenken und Falschparker besser kontrollieren. Und was können die Bürger selber tun? Auch dazu hatten sie Ideen:
"Wir können aufs Auto verzichten unter anderem. Wir können uns selber anschauen, wie verhalten wir uns im Straßenverkehr. Bin ich selber Gefährder? Bin ich gefährdet? Und letzten Endes das auch weitertragen."
Verkehrswende, Vermischung und ein bisschen Dolce Vita. Vor allem aber für alle gleichermaßen viel Platz. Die Debatte um den öffentlichen Raum nimmt an Fahrt auf.
Die Erstausstrahlung des Features von Beate Krol war am 26.11.2019.

Autorin: Beate Krol
Sprecherin und Sprecher: Uta-Maria Torp und Ulrich Lipka
Regie: Clarisse Cossais
Ton: Ingeborg Görgner
Redaktion: Martin Mair
Produktion: Deutschlandfunk Kultur 2019

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