Odenwald

Mit Pop-up-Architektur gegen den Leerstand der Provinz

06:33 Minuten
Biergarten mit Holzbänken
Der Pop-up-Biergarten aus hellem Holz soll einen Kontrast zu den alten, teilweise etwas heruntergekommenen Gemäuern bilden. © Deutschlandradio/Ludger Fittkau
Von Ludger Fittkau · 04.08.2020
Audio herunterladen
Viele, oft auch denkmalgeschützte Gebäude in der Provinz stehen leer, Ortskerne wirken unbelebt. Doch im hessischen Odenwald machen sich Politiker und Architektinnen stark dafür, den Trend umzukehren: mit Großstadt-Bauästhetik.
Der Gastronom Chris Keylock und die Architektur-Professorin Kerstin Schultz bitten mich in den besonders idyllischen Teil eines Garten-Areals. Das Grundstück liegt unmittelbar am Ufer des Flusses Mümling im hessischen Odenwald-Städtchen Erbach. Rund um ein altes, leerstehendes Gasthaus und ein angrenzendes Fachwerk-Wohnhaus ist die "Brücke 7" entstanden: ein sogenannter "Pop-up-Biergarten". Mit viel hellem Holz wurde der Außenbereich so umgestaltet, dass er einen reizvollen, modernen Kontrast zu den alten, teilweise etwas heruntergekommenen Gemäuern drum herum bietet.
"Wir wollten auch hier in diesem ländlichen Raum so ein urbanes Konzept platzieren, um einfach auch zu zeigen, dass das nicht nur in Berlin oder einer anderen Metropole funktionieren kann, sondern eben auch hier die Nachfrage nach so was ist und wir die jetzt quasi damit befriedigen", sagt "Brücke 7"-Betreiber Chris Keylock. "Und ja, es sind vor allem viele junge Leute, die das sehr schätzen und so was Cooles, was Neues schon sehr schon lieb gewonnen haben."

Holz fügt sich gut ein

"Dieses Team aus Leuten, die sich hier engagieren, sind alles Leute, die sich im Odenwald Gedanken gemacht haben: Wie kann der ländliche Raum eigentlich weiterentwickelt werden?", sagt Kerstin Schultz. Als Architekturprofessorin ist sie an der Fachhochschule Darmstadt für Bauen im Bestand zuständig. Mit ihrem Mann Werner Schulz betreibt sie außerdem das Architekturbüro "Liquid" im Odenwald.
"Und so haben wir uns auch getroffen und kennengelernt, jeder auf seine Art, architektonisch, inhaltlich und auch jetzt vom Thema Kochen her und Nahrung. Wie das Ganze in Gestaltung gepackt wird, ist Architekten-Aufgabe. Deswegen können wir schon sagen: Diese Art des Umgangs mit der Gestaltung, mit dem Material, mit dem Einfügen, mit der Geschichte dieses Ortes, das haben wir als Architektur-Büro zusammen entwickelt. Dann mit dem Thema Holz. Das lag natürlich auch nahe, weil es ein Material ist, was sehr einfach zu händeln ist, was günstig ist, was immer auch naturnah ist, was hier vorkommt und was sich gut einfügt."

Ort neu interpretieren

Kerstin Schultz und Chris Keylock führen mich um das nun leer stehende, alte Gasthaus herum zu einer Holzbühne im Freien, die zum großen Teil überdacht ist. Sie liegt im Zentrum des Biergartens und ist selbst bei Regen für kleine Konzerte geeignet. Auf den Tribünen, die neu gezimmert wurden, wird mit Klebestreifen auf den Corona-Mindestabstand hingewiesen, der auch im Sommer im Freien einzuhalten ist.
Architektur-Professorin Kerstin Schultz im Biergarten
Will Orte herstellen, die die Landschaft mit den Menschen wieder verbindet: Architektur-Professorin Kerstin Schultz.© Deutschlandradio/Ludger Fittkau
Architektin Kerstin Schultz: "Man hat versucht, das wie in so einer kleinen Stadt zu gestalten. Diese Bühne, wo auch mal Veranstaltungen stattfinden. Wo man sich draufsetzt, wo man sich einfach auch auf verschiedenen Ebenen zusammensetzt. Drüben, das haben wir das Sonnendeck genannt, weil man da auf einer Plattform sitzt. Der Kern ist das ehemalige Schlachthaus, die Bar und diese Elemente bilden eben zusammen dieses Ensemble. Und das war auch wirklich die Konzeption, das nicht einzelne Satelliten einfach herumstehen wie auf einem Weihnachtsmarkt, sondern dass man miteinander diesen Ort so noch mal ganz neu interpretiert und weitererzählt."

Kontrast zum Verfall

Was mit der "Brücke 7" in Erbach im Kleinen geschieht, will im nur ein paar hundert Meter entfernten Landratsamt des Odenwaldkreises der Behördenchef Frank Matiaske im Großen. Der sozialdemokratische Landrat betreibt die Internetseite "Land Neu Denken – Ideen für eine erfolgreiche Provinz".
"Generell steht hier der ländliche Raum für etwas, was nicht unbedingt in der Realität existiert. Also wenn ich die 'Landlust' aufschlage, eine der auflagenstärksten Zeitungen in Deutschland, dann bekomme ich ein Landleben präsentiert, das ich in Wirklichkeit suchen muss. Es ist eine Mischung irgendwo aus Südengland, aus Skandinavien, aus Südfrankreich. Ein bisschen Deutschland mit dabei. Das prägt so maßgeblich Sehnsüchte." Die im Odenwald eben nicht umfassend befriedigt werden können.
Ein leerstehendes Fachwerkhaus an der "Brücke 7" ist mit hellem Holz markiert
Das historische Erbe verfällt: Das leerstehende Fachwerkhaus an der "Brücke 7" ist mit hellem Holz markiert.© Deutschlandradio/Ludger Fittkau
Dass etwa einzelne Fenster eines leerstehenden Wohngebäudes an der "Brücke 7" in Erbach mit hellem Holz vernagelt wurden, ist auch eine politische Handlung. Damit wird mahnend auf ein gefährdetes, denkmalgeschütztes Fachwerkhaus hingewiesen. Das frische Holz schafft einen wichtigen, ästhetischen Kontrast zum Verfall. Das zielt letztlich auf den Erhalt und – wo möglich – die Sanierung der Dorfkerne, statt auf Neubau am Rande der alten Orte.
Landrat Frank Matiaske: "Ich habe persönlich erlebt, dass Gemeinden, denen es gelungen ist, eine regionale Bau-Identität zu bewahren – ob das jetzt im Allgäu ist, ob das im Schwarzwald, ob das die Fachwerkhäuser in Hessen sind, dass diese Orte ein ganzes Stück weit mehr die Sehnsucht erfüllen der Menschen auf Landleben, als wenn ich mit hochmodernen und neuen Baugebieten irgendwann mal einen Architekturmix geschaffen habe, der jegliche regionale Identität dann verlieren lässt."

Wo kommt eigentlich mein Essen her?

Während Chris Keylock gemeinsam mit seiner Frau die letzten Vorbereitungen für einen neuen Sommertag im Biergarten treffen, fordert Architekturprofessorin Kerstin Schultz, bei der Neuerfindung des ländlichen Raumes nicht nur an der Oberfläche zu bleiben:
"Was wichtig ist: dass man Projekte macht, die in irgendeiner Form auch einen Inhalt transportieren, egal welche Architekturprojekte, und dass die Menschen etwas über die Orte und Geschichte erfahren, auch diese Community erleben. Wer ist hier eigentlich? Und wie leben die Menschen hier eigentlich zusammen? Das zeigt sich ja dann an solchen Projekten sehr stark."
In die Baukultur und das Sprechen darüber auch explizit immer wieder die Stärken einer Region einzubeziehen, sei eigentlich eine uralte Kulturtechnik, gerade in Agrarregionen, so Schultz:
"Wir haben es irgendwann auf dem Weg verloren. Deswegen ist es, glaube ich, sehr gut, wenn gerade die jungen Leute das jetzt wieder angehen und auch wieder viel stärker einfordern, zu fragen: Wo kommt eigentlich mein Essen her? Welche Beziehung habe ich dazu, gerade im ländlichen Raum und wie ist Baukultur, Geschichte, regionales Bauen überhaupt zu bewerten und kann man wieder so eine Art Orientierung bekommen, die eigentlich lange, lange Jahre gefehlt hat?"
Mehr zum Thema