Odd Arne Westad: "Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte"

Der Kalte Krieg, neu vermessen

06:36 Minuten
Auf dem Cover steht oben auf schwarzem Hintergrund "Der Kalte Krieg - eine Weltgeschichte", darunter ist ein Foto zu sehen, auf dem ein mit Soldaten besetzer Panzer auf einer Straße steht und Passanten auf dem Bürgersteig gehen.
"Der Kalte Krieg" von Odd Arne Westad: Inspirierend und zu Nachfrage, Ergänzung sowie Widerspruch ermutigend. © Cover: Klett-Cotta
Von Marko Martin · 07.12.2019
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Hat der Kalte Krieg schon 1890 begonnen? Harvard-Historiker Odd Arne Westad erzählt die vermeintlich sattsam bekannte Geschichte vom Konflikt der Systeme auf erfrischende Weise neu. Mitsamt allen Widersprüchlichkeiten, die dazu gehören.
Ein Buch, das geradezu perfekt passt zum Jubiläums-Herbst 2019. Obwohl – oder gerade weil – das amerikanische Original bereits 2017 erschien, mit langem Atem und stupender Geschichtskenntnis geschrieben wurde und auch keineswegs Deutschland- oder Europa-zentriert ist: Odd Arne Westads "Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte" hält, was der Titel verspricht. Es öffnet dem Laien ebenso wie dem sich bereits ausreichend historisch beschlagen glaubenden Leser eine Unzahl neuer Horizonte.
Den Beginn des Kalten Krieges, der gemeinhin mit den Jahren 1945/46 und Stalins Einverleibung der Länder Ost- und Mitteleuropas assoziiert wird, datiert der in Norwegen geborene Harvard-Professor und renommierte Historiker nämlich auf eine viel frühere Zeit. So beginnt sein 700-Seiten-Werk bereits in den 1890er Jahren, als russische und amerikanische Expansionen, begleitet von der Nutzung neuer Technik und einem ungebrochenen Zukunftsglauben, einen Ausblick auf das Kommende gaben.
Ob sich tatsächlich eine gewisse Kontinuität zwischen dem autoritären Zarenreich und dem seit 1917 totalitär tabula rasa machenden Sowjetregime herstellen lässt, mag jeder selbst entscheiden – provozierend neu ist der Ansatz allemal.

Begrifflich manchmal in der Bredouille

Hinzu kommt Westads detaillierte, doch nie ermüdende Darstellung westlicher Krisen – Stichwort etwa der "Black Friday" von 1929 – die nicht nur innerhalb der Sowjetunion die Gewissheit aufkommen ließen, dass ab jetzt dem Kommunismus die Zukunft gehöre.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg geschwächten Kolonialreiche Frankreich und Großbritannien mussten Stalin dann ebenfalls in der Überzeugung bestärken, dass sich die weltpolitischen Bedeutungsachsen verschoben hätten und nun allein die von ihrem way of life überzeugten USA als ernstzunehmender Konkurrent übriggeblieben seien.
Wie die beiden neuen Großmächte dann in den ehemals britischen und französischen Kolonien Afrikas und Asiens ihre Stellvertreterkriege ausfochten und ihnen jeweils genehme Regimes installierten, wird packend erzählt. Dabei wird nicht verschwiegen, wie die dortigen Staaten noch heute unter dieser historischen Last leiden.
Odd Arne Westad ist bei alldem erkenntlich um Fairness bemüht, meidet den schrillen Tonfall und kommt dennoch ein manches Mal begrifflich in die Bredouille. Bestand der Unterschied zwischen USA und Sowjetunion tatsächlich nur in einem Konflikt zwischen "Kapitalismus" und "Sozialismus"?
Etliche der vom Autor präsentierten Fakten widersprechen dem: Immerhin hatten sich nicht nur in seiner norwegischen Heimat, sondern auch in weiten Teilen der westlichen Welt (mit der "Verspätung" der noch lange diktatorisch regierten Länder Spanien und Portugal) rechtlich verbindliche Demokratie- und Wohlfahrtsstandards herausgebildet, von denen die Bewohner der UdSSR und Osteuropas, denen u.a. jegliche freie Gewerkschaftsaktivität untersagt war, nur träumen konnten.

Ein inspirierendes Buch ohne Hybris

Merkwürdig auch, dass ein Buch, das derart auf den ideologischen Charakter des Kalten Krieges rekurriert, Jahrhundertzeugen und einflussreiche Ideologiekritiker wie George Orwell, Albert Camus oder Arthur Koestler nicht einmal namentlich erwähnt. Die Passagen über Repression und Alltag im Ostblock entschädigen partiell dafür, obwohl zu diesem Thema bereits profunde Bücher von Timothy Garton Ash und Anne Applebaum vorliegen.
Westads Chronik, die mit Michail Gorbatschows Abdankung und dem Ende der Sowjetunion 1991 endet, ist in jedem Falle ein Augenöffner – nicht zuletzt dank des umfangreichen Nachworts, das die fortdauernde amerikanische Unfähigkeit, sich nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu situieren, ohne jegliche Häme und Besserwisserei beschreibt.
Die Hybris, die – von Mao über Mobuto bis Nixon, McCarthy, Ceausescu und Honecker – so viele der Protagonisten des Kalten Krieges ergriffen hatte, wird vom Berichterstatter jedenfalls nicht fortgesetzt: Er verfällt nicht dem Wahn, als Geschichtsdemiurg die Antwort auf alles und jedes zu wissen. Deshalb noch einmal: Was für ein inspirierendes, da zu Nachfrage, Ergänzung und auch Widerspruch ermutigendes Buch!

Odd Arne Westad: "Der Kalte Krieg. Eine Weltgeschichte"
Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm und Hans Freundl
Klett-Cotta, Stuttgart 2019
763 Seiten, 34 Euro

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