Oberhausen

Vom Kulturfilm zum "roten Festival"

Jury Kurzfilmtage Oberhausen 1962
Die Jury des Jahrgangs 1962 sichtet Filme für die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen: Walter Buhrow (Deutschland), John Halas (Großbritannien) und Pierre Thevenard (Frankreich) © dpa / picture alliance / Heinz Ducklau
Andreas Kötzing im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 30.04.2014
Früher als die Berlinale wollte das Oberhausener Festival eine "Brücke bauen über den Eisernen Vorhang", sagt der Filmhistoriker Andreas Kötzing. Noch heute sei es einer der wichtigsten Orte der Welt für den Kurzfilm.
Matthias Hanselmann: Oberhausen, das war für die Filmwelt in den 1950er- und 60er-Jahren der Ausgangspunkt für große Regiekarrieren. François Truffaut und Alain Resnais zeigten hier ihre ersten Filme. Es folgten viele weitere heute prominente Filmemacher wie Martin Scorsese, Roman Polanski oder Werner Herzog. Die "Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen", wie das Festival offiziell heißt, werden in diesen Tagen 60 Jahre alt. Aus diesem Anlass habe ich mit dem Filmhistoriker Andreas Kötzing gesprochen.
Oberhausen, zirka 210.000 Einwohner, im Westen des Ruhrgebiets gelegen, auch "die Wiege der Ruhrindustrie" genannt. Hier also wurde 1954 dieses Festival gegründet. Meine erste Frage, Herr Kötzing: Warum ausgerechnet dort und nicht in einer anderen mittleren Großstadt der Republik?
Andreas Kötzing: Tja, das ist wie so häufig eine Geschichte von vielen Zufällen, die sich dort miteinander verknüpft haben, warum das ausgerechnet in Oberhausen passiert ist. Relativ viel hat damit zu tun, dass der Gründervater des Festivals, Hilmar Hoffmann, damals durch einen Zufall nach Oberhausen gekommen ist. Der war in Kriegsgefangenschaft und kam nach dem Krieg zurück, hatte Englisch gelernt, sehr gut, und hat dann dort im British Information Centre Arbeit gefunden, und aus diesem Information Center ist später die Volkshochschule in Oberhausen hervorgegangen. Hoffmann hat sich früh für Filme interessiert, war ein sehr begeisterter filmaffiner Mensch.
Er hatte den Ursprung schon einmal gesehen so eines Festivals in den Jahren davor in Mannheim, wo man schon 1952 einmal so ein Festival veranstaltet hat – damals übrigens unter dem Titel "Kulturfilmwoche". "Kurzfilmtage" kam dann erst später. Also Kulturfilm war der eigentliche Ursprung, diese weit in die Geschichte der Weimarer Republik zurückreichende Filmtradition der populärwissenschaftlichen Filme über Tiere, über Kultur, über Geografie, über wissenschaftliche Themen. Da hatte das Festival eigentlich seinen Ursprung, und dass es dann halt eben in Oberhausen stattgefunden hat, war tatsächlich schlicht und ergreifend dem Zufall geschuldet, dass es dort mit Hilmar Hoffmann so einen filmbegeisterten Enthusiasten gab, der gesagt hat: Ja, ich mach das jetzt auch, hier bei uns in der Stadt, wir probieren das auch, was die Leute in Mannheim gemacht haben, das können wir hier auch. Und er hat es mit großem Erfolg dann 1954 zum ersten Mal ins Leben gerufen.
Hanselmann: Wie ist Herr Hoffmann politisch einzuordnen? War er ein Linker?
Kötzing: Ja, also, von seiner Position her wahrscheinlich sicherlich eher schon, wie eigentlich alle Leute, die dort ein bisschen aus diesem Kontext gekommen sind. Hilmar Hoffmann war später Parteigänger für Willy Brandt, er hat sich sehr, sehr stark auch dort politisch engagiert, und man muss wahrscheinlich auch noch mit dazu sagen, dass insbesondere Luise Albertz natürlich mit in diesen Kontext gehört, die damalige Oberbürgermeisterin der Stadt Oberhausen, SPD-Oberbürgermeisterin, was sicherlich sehr außergewöhnlich war für die damalige Zeit. Und insofern gehören die schon eher so in das linkere Spektrum hinein, und das hat sicherlich auch dann Ausschlag dafür gehabt, wie sich das Festival dann in den weiteren Jahren entwickelt hat.
Hanselmann: Es herrschte damals der Kalte Krieg, die Konfrontation der Westmächte und des Ostblocks, des Kapitalismus und des Kommunismus. Wie passte dieses Kurzfilmfestival in die damalige politische und kulturelle Stimmung?
Kötzing: Na ja, das war ja eher so, dass diese kulturelle Stimmung sich automatisch, die politischen Verhältnisse sich automatisch in den Bereich der Kultur so ein bisschen hineinbewegt haben. Man konnte ja kaum etwas machen. In dem Moment, in dem man angefangen hat, internationale Filme zu zeigen, musste man sich automatisch mit den politischen Verhältnissen des Kalten Krieges auseinandersetzen, und Hoffmann hat es dann geschafft, zusammen mit Will Wehling, seinem Programmreferenten und späteren Nachfolger dann in Oberhausen, das Festival frühzeitig dem Osten gegenüber zu öffnen.
"Die Avantgarde kam aus Osteuropa"
Das war dieser Impuls ab 1958, zu sagen, wir laden jetzt gezielt Filmemacher aus Osteuropa hierher zu uns nach Oberhausen ein. Wir wollen eine Brücke bauen über den Eisernen Vorhang. Wir wollen gerade diese Filmemacher in diesen schwierigen politischen Zeiten hier zu uns einladen, ihnen die Möglichkeit geben, dass sie hier ihre Filme zeigen können. Und das war einzigartig für die damaligen Verhältnisse bei den westlichen Festivals. Das hat sich kein anderes westliches Festival im gleichen Maßstab getraut. Oberhausen gibt sich selbst ja das programmatische Motto "Weg zum Nachbarn" und setzt in den kommenden Jahren ganz, ganz gezielt auf die Filme aus Osteuropa. Und profitiert natürlich zu diesem Zeitpunkt davon, dass wir es dort mit einer sehr weit schon vorangeschrittenen Filmkultur zu tun haben. Die ganze Avantgarde im Bereich des Animationsfilms und der kurzen Dokumentarfilme kommt zu diesem Zeitpunkt eben aus Osteuropa.
Hanselmann: Aber wenn sich ein solches Festival damals als erstes in Deutschland, in der Bundesrepublik, muss man sagen, geöffnet hat in Richtung Osten, dann ist das doch bestimmt nicht ohne Proteste geblieben. Das war doch sicherlich vielen Menschen auch in der Politik ein Dorn im Auge, oder?
Kötzing: Ja selbstverständlich. Von Anfang an hat man sich damit eigentlich keine Freunde gemacht bei der Bundesregierung natürlich insbesondere, während man sich der Unterstützung in der Stadtverwaltung sicher sein konnte, funktionierte das auf Landesebene und auf Bundesebene lange Zeit überhaupt nicht. Das Festival ist ein regelrechter Dorn im Auge für die Bundesregierung. Die Tatsache, dass man dort so viele Filmemacher aus Osteuropa einlädt und auch aus der DDR einlädt, also auch Filme aus dem anderen deutschen Staat dort zeigt, das gefällt der Bundesregierung überhaupt nicht.
Hermann Höchel, der damalige Bundesinnenminister, führt über Jahre hinweg einen regelrechten Kleinkrieg gegen die Stadtverwaltung, indem man der Stadt jedes Jahr den Antrag auf einen Zuschuss verweigert und sagt, nein, die kriegt kein Geld von uns. Lange Zeit begründet man das immer mit so, ich nenne es mal eher vorgeschobenen Argumenten, dass man sagt, wir haben nicht mehr Geld und wir unterstützen schon das Filmfestival in Mannheim und wir unterstützen schon die Berlinale. Mehr Festivals können wir nicht fördern. Und irgendwann platzt es dann aber aus Hermann Höchel einmal richtiggehend heraus. In einem Interview sagt er, Oberhausen, das sei ein rotes Festival, und damit möchte er nichts zu tun haben, dort möchte er nicht, dass dort irgendwelche Bundesgelder für ausgegeben werden, für diese Veranstaltung dort.
Und das führt in Oberhausen zu einem richtiggehenden Eklat, weil man 1965 dann einfach mal den Schriftwechsel der vergangenen Jahre mit der Bundesregierung öffentlich macht auf einer Pressekonferenz und das alles den Journalisten zur Verfügung stellt. Die ganzen Vorwürfe, die da drin steckten – da würden Journalisten gekauft, die Filmvorführungen würden alle nur unter kommunistischen Gesichtspunkten dort die Filme ausgewählt werden. Da hat es richtig geknallt, und das Festival hatte dann sein Image oder seinen Ruf als rotes Festival so ein bisschen weg.
Hanselmann: Ja, daran war man ja auch sicherlich selber ein bisschen schuld. 1962 hieß es im Oberhausener Manifest "Opas Kino ist tot". Und in den 60ern überhaupt, da waren ja die politischen Richtungen zumindest bei der jüngeren Generation einigermaßen vorgegeben. Also, noch mal anders gestellt die Frage: Dieses Image des roten Festivals, hat man sich das nicht selbst gegeben?
Kötzing: Teils, teils, würde ich sagen. Die rebellischen jungen Filmemacher, die Sie angesprochen haben, die sind ja eigentlich nach Oberhausen gekommen, weil sie dort ein Podium nutzen wollten, das ihnen das Festival eben geboten hat für ihr Statement, für ihr Manifest. Es war nicht unbedingt so, dass man sie jetzt hergerufen hätte, sondern sie sind einfach gekommen, weil es dort dieses Podium gab, weil es ein spannendes, weil es ein vielschichtiges Podium war mit den Filmen eben aus Osteuropa, und von ihrem Ursprung her saßen die eigentlich alle in München, die Leute. Peter Schamoni, Alexander Kluge, Haro Senft – also die ganzen Leute, Edgar Reitz, die dort in dem Kontext des Manifestes sich engagiert hatten, hatten ja ihre Heimat eigentlich in München und sind dann nur nach Oberhausen gekommen, um dort dieses Podium für sich nutzen zu können.
"Aufbrechen der alten Strukturen"
Also so ein bisschen hat man natürlich sehr, sehr stark davon profitiert, und natürlich ist das auch ein Image gewesen, das man dann in Oberhausen sehr stark gepflegt hat. Aber ich glaube, da haben sich einfach so Richtungen miteinander getroffen. Der Aufbruch in diese neue Zeit der 60er-Jahre, die man ja auch so ein bisschen als eine Neugründung der Bundesrepublik manchmal interpretiert. Dieses Aufbrechen der alten Strukturen, dafür war Oberhausen in diesem Fall als Film- und als Festivalort der ideale Ort.
Hanselmann: Die eigentliche Wichtigkeit oder auch Wucht kam ja schon damals von der Berlinale. Wieso sind so wichtige Leute wie Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders, Alexander Kluge und andere, die Sie gerade auch genannt haben, mit ihren frühen Werken nach Oberhausen gekommen und nicht zur Berlinale?
Kötzing: Mit ihren frühen Werken sind sie nach Oberhausen gekommen, weil es eben Kurzfilme waren. Dort haben sie alle ihre Anfänge gemacht, und da war eben die Berlinale zum damaligen Zeitpunkt noch nicht das ideale Podium dafür. Das war ja ein weitestgehend als Spielfilmfestival etablierter Ort. Und man muss dazu auch sagen, den größeren künstlerischen Reiz hat zur damaligen Zeit tatsächlich Oberhausen sicher ausgestrahlt, weil bis in die Mitte der 70er-Jahre hinein ist die Berlinale ja ein ausschließlich westlich orientiertes Festival. Es findet kein Austausch mit der östlichen Welt statt. Filmemacher aus Osteuropa werden erst ab 1975 erstmals auf der Berlinale präsent sein.
Bis dahin findet man eigentlich eher so die Kontaktmöglichkeiten, das, was vielleicht für viele junge Filmemacher auch wirklich spannend gewesen ist, sich auszutauschen mit Leuten wie Roman Polanski, wie István Szabó, die mit ihren ersten Kurzfilmen nach Oberhausen gekommen sind. Diese Möglichkeiten hatte man eben nur dort, und auf keinem anderen Festival in Westdeutschland.
Plakate werben für die 18. Kurzfilmtage in Oberhausen 1972
Plakate werben für die 18. Kurzfilmtage in Oberhausen 1972© dpa / picture alliance / Müller
Hanselmann: Auch heute ist ja dieses Festival noch ein klassisches Kurzfilmfestival. Wie wichtig ist und war eigentlich dieses Genre für Oberhausen? Hätte es auch ein Spielfilmfestival sein können?
Kötzing: Ja, sicher, das hätte es auch werden können. Es ist natürlich immer so ein bisschen spekulativ, was wäre, wenn, aber wenn man es zum Beispiel mit der Mannheimer Filmwoche vergleicht, die hatte ich ja anfangs erwähnt, das war tatsächlich das erste Festival für Kulturfilme, die haben irgendwann diesen Schnitt gemacht und haben sich vom Kultur- beziehungsweise Kurz- und Dokumentarfilm so ein wenig getrennt und ab 1960 sich dann verstärkt auf Erstlingsspielfilme und Spielfilme konzentriert. Das Festival gibt es natürlich bis heute auch, Mannheim-Heidelberg, sehr renommiert. Aber Oberhausen hat sich auf diesen Kurzfilm halt weiter gesetzt, und ganz stark, ausschließlich halt irgendwie den Schwerpunkt dort bei den Kurzfilmen angesiedelt und damit es natürlich auch geschafft, so ein ganz eigenständiges Profil zu entwickeln und sich das auch bis heute zu erhalten.
Hanselmann: Nun gibt es ja Kurzfilm- und andere Filmfestivals heutzutage fast überall und zu jeder Tages- und Jahreszeit. Welche Rolle spielt Oberhausen heute noch nach 60 Jahren? Wie wichtig ist es noch?
Kötzing: Ich glaube, man kann getrost sagen, dass es nach wie vor eines der wichtigsten Kurzfilmfestivals in der Welt ist. Also, das ist nicht übertrieben, wenn man das sagt. Wenn man sich anschaut auch, wie viele Filmemacher gezielt nach Oberhausen kommen, um dort ihre Filme zu zeigen, es als Podium dort nach wie vor wahrzunehmen, und das Festival sich ja auch nach wie vor bemüht, die gesamte Breite im Kurzfilmbereich halt widerzuspiegeln. Wir haben es natürlich heute mit einer Entwicklung zu tun, wo auch der Kurzfilm wieder so ein bisschen in so einem randständigen Bereich sich befindet. Oder, wenn man ehrlich ist, ist er vielleicht aus diesem ja gar nicht so wirklich jemals rausgekommen.
Im Kino laufen die Kurzfilme nicht mehr, selbst wenn sie bei 3sat oder Arte gezeigt werden, dann meistens erst spät nach Mitternacht. Und wir erleben ja so eine Art Entwicklung, dass vieles ins Netz drängt, wo die Kurzfilme ein Podium für sich entdeckt haben, wo man sie sehen kann. Und Oberhausen versucht nach wie vor halt, der Ort zu sein, wo man diese Filme halt auch öffentlich sehen kann, wo sie nicht losgelöst sind, wo sie in einer Gemeinschaft, im Kino, erfahrbar sind, und ich finde das nach wie vor ganz besonders wichtig.
Hanselmann: Kinorebellion in der westdeutschen Provinz. Die Internationalen Kurzfilmtage von Oberhausen werden 60 Jahre alt. Vielen Dank an Andreas Kötzing.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Homepage der Kurzfilmtage Oberhausen
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