Obdachlosenhilfe in Berlin

Ein Zimmer als Chance

30:04 Minuten
Benjamin ist 35 Jahre alt und sitzt mit seinen Hunden auf den Treppen des Hauseingangs seiner Wohnung in Berlin.
Mit der eigenen Wohnung sieht man plötzlich Möglichkeiten, etwas anderes zu tun, als nur in den Tag hinein zu leben, sagt Benjamin. © Deutschlandradio / Vincent Lindig
Von Vincent Lindig  · 25.04.2021
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Erst eine Wohnung, dann die anderen Probleme anpacken. Das ist die Philosophie von "Housing First", einem Projekt gegen Obdachlosigkeit in Berlin. Benjamin hat so nach Jahren auf der Straße eine Bleibe gefunden und macht jetzt Zukunftspläne.
Benjamins Wohnung liegt im sechsten Stock eines Plattenbaus im Berliner Randbezirk Hellersdorf. Die typischen Ostplatten mit kleinen Balkonen prägen das Bild, große Alleen mit Straßenbahnschienen in der Mitte, Discounter und Ramschläden in Flachbauten. Von hier braucht man eine gute Stunde ins Stadtzentrum Berlins.
Der 35-Jährige lebt mit seinen zwei Hunden in der kleinen Einzimmerwohnung: Lady und Lady. Benjamin ist ein zierlicher Typ mit schwarzen, nach hinten gelegten Haaren. Empfängt mich in Schlappen und sagt: Fühl dich wie zu Hause. Das Zimmer ist einfach eingerichtet: ein Fernseher mit kleiner DVD-Sammlung, ein Sofa, das zum Schlafen ausgeklappt wird, ein niedriger Couchtisch. Schlaf, Ess- und Wohnzimmer in einem, Besuch bekommt Benjamin Scharb ohnehin nicht oft.
"Ich habe auch mit niemandem großartig Kontakt, grundsätzlich bin ich ein Einzelgänger. Ich hatte zwar einen besten Kumpel, aber der ist leider dieses Jahr verstorben", sagt er. "Daher habe ich auch zwei Hunde, weil ich seinen Hund übernommen habe. Aber ansonsten habe ich mit den Leuten nichts groß zu tun."

Geschenkte oder gebraucht gekaufte Möbel

"Die meisten Möbel hier sind gebraucht, vom Second-Hand Laden oder so. Den Wohnzimmerschrank habe ich mir neu geholt. Den Flachbildschirm habe ich von meinem besten Kumpel. Dann eine kleine Konsole, die habe ich mir hauptsächlich geholt, damit ich mir meine DVDs angucken kann. Natürlich auch gebraucht, neu kann ich mir sowas gar nicht leisten. Die Küche wurde mir gestellt, zum Beispiel Herd und Spüle. Und den Rest habe ich halt auch gebraucht geholt."

Die Wohnung ist für Benjamin Rückzugsort, Ruhepol und Schutzraum. Auch für seine beiden Hunde, wie er sagt. Diesen Rückzugsort verdankt er dem Modellprojekt von "Housing First Berlin". Housing First – das ist ein Ansatz aus den USA zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit, der einer einfachen Philosophie folgt: erst runter von der Straße in die eigene Wohnung, dann die restlichen Probleme anpacken. Entwickelt wurde der Ansatz Ende der 90er, seit Oktober 2018 läuft das Berliner Projektmodell.
Benjamin sitzt in seiner Wohnung, die er über das Housing First Modellprojekt erhalten hat.
Klein, aber mein: Für Benjamin ist die eigene Wohnung Ruhepool und Schutzraum.© Deutschlandradio / Vincent Lindig
Benjamin Scharb ist einer der ersten Klienten, die in eine eigene Wohnung vermittelt werden konnten. Im Berliner Modellprojekt geht es aber nicht nur um eine eigene Wohnung, sondern auch um Hilfe darüber hinaus.
"Das Housing First hat mir auch dabei geholfen, dass ich wieder mit meiner Tochter Kontakt habe, die zur Zeit bei Pflegeeltern wohnt. Und dass ich jetzt meine Zähne machen lasse. Das habe ich auf der Straße alles nicht gehabt. Da lässt man sich einfach nur gehen, lebt in den Tag und – c'est la vie", sagt Benjamin. "Aber wenn man seine eigene Wohnung hat und man sieht Möglichkeiten, etwas anderes zu tun und etwas aus sich zu machen, dann bewegt man, auf gut Deutsch gesagt, auch mal seine vier Buchstaben."

Zwei Jahre auf der Straße in Köln

Benjamin hofft, dass mit der Wohnung vieles in seinem Leben besser wird. Oder zumindest normal. Denn sein Leben war bisher eine ganz schöne Achterbahnfahrt. Geboren wird Benjamin in Köln – bis er schließlich in Berlin auf der Straße landet, hat er schon eine kleine Odyssee hinter sich.
"Meine Kindheit habe ich in Stuttgart verbracht und da ich gebürtig aus Köln komme, habe ich mir gedacht: Irgendwann zieht es einen halt mal wieder nach Hause. Dann war ich dort zwei Jahre auf der Straße – also komplett auf der Straße, ohne Wohnheim oder so. Wenn ich das jetzt alles zusammenrechne, können es schon insgesamt so zehn Jahre sein. Nicht am Stück, aber ich bin immer wieder auf der Straße gelandet.
Dann habe ich jemanden kennengelernt, dem hatte man in Köln seine ganzen Papiere geklaut, der kam aber gebürtig aus Bremen. Und dann hat er gefragt, ob ich eventuell Interesse an einer Radtour hätte, und dann sind wir mit dem Fahrrad nach Bremen gefahren. Und dann bin ich halt allein weitergezogen, von Bremen nach Hamburg und von Hamburg nach Berlin."
Auf der Straße – das sind für ihn immer auch Erinnerungen an Gewalt. Hier wirst du nachts zusammengetreten, sagt er. Aber auch in Sammelunterkünften, in denen Menschen mit völlig unterschiedlichen Problemlagen gemeinsam untergebracht sind, macht er schlechte Erfahrungen.
Deshalb ist eine Unterbringung in einer solchen Einrichtung für ihn keine Option – auch nicht, als er noch auf der Straße lebt.
"Ich habe von vornherein dem Streetworker gesagt: Ich möchte in keine Sammelunterkunft und auch in kein Männerwohnheim. Das habe ich grundsätzlich abgelehnt. Ich habe zu ihm gesagt, wenn es irgendwie eine Möglichkeit gibt mit eigener Wohnung, dann gerne. Aber ich möchte in keine Einrichtung. Da muss man mehr auf seine Sachen aufpassen, als wenn man zum Beispiel auf der Straße ist. Weil da kommt man in verschiedene Sachen, zum Beispiel Drogensucht – meine Drogensucht habe ich gerade erst hinter mir und auch den Alkoholkonsum.
Da wird man jeden Tag mit Suchtmitteln konfrontiert. Egal, wo man hingeht, egal, mit wem man sich unterhält: Irgendein Nachbar hat immer irgendwie was. Und dann kommt man aus dem Sumpf einfach nicht raus. Und wenn man wie zum Beispiel beim Housing First seine eigene Wohnung hat und merkt, man bekommt einen Suchtdruck, dann kann man sich abschotten und kann in seine eigene Wohnung."

Housing First: Akzeptieren statt Sanktionieren

Ruhe, Privatsphäre, Zeit zur Reflektion, körperliche Sicherheit. In großen Unterkünften oder Wohnheimen ist das so nicht möglich. Dazu kommen oft strenge Regeln: kein Drogen- und Alkoholkonsum für die Dauer des Aufenthalts, für viele Suchtkranke ein Ding der Unmöglichkeit. Dann noch keine Tiere, abends früh ins Bett und morgens früh wieder raus.
Solche Regeln sind für viele Schutzbedürftige ein Ausschlusskriterium, weswegen sie lieber auf der Straße bleiben oder die Unterkünfte nur kurz aufsuchen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Im Bereich des betreuten Wohnens sind Rückfälle in Drogen- oder Alkoholkonsum oft sofortige Ausschlusskriterien und damit der direkte Weg zurück auf die Straße.
Bei Housing First Berlin verfolgt man einen ganz anderen Ansatz: Akzeptieren statt sanktionieren.
Das Büro von Housing First Berlin liegt im Erdgeschoss eines Wohnhauses im Bezirk Friedrichshain, nahe der S-Bahn-Station Frankfurter Allee. Im Besprechungszimmer mit großer Glasfront stehen schmucklose, praktische Möbel. Schaubilder und Plakate an den Wänden erklären sachlich die Arbeit mit Menschen von der Straße. Auf dem Tisch steht Kaffee und eingeschweißte Kekse, ein nüchterner Sozialarbeitercharme liegt in der Luft.
Die Mitarbeiter des Housing First Projekt Sebastian Böwe und Stefan Laurer.(v.l.)
Im angespannten Berliner Wohnungsmarkt günstigen Wohnraum für ihre Klienten finden: Keine leichte Aufgabe für die Mitarbeiter von Housing First, Sebastian Böwe und Stefan Laurer.(v.l.) © Deutschlandradio / Vincent Lindig
Stefan Laurer ist Sozialpädagoge bei Housing First, Sebastian Böwe ist für die Wohnungsakquise zuständig. Er bilanziert die ersten zwei Jahre des Projektmodells:
"Zielsetzung war, bis Oktober 2021 vierzig Menschen im eigenen Wohnraum unterzubringen, wir sind heute bei 31. Das ist eine ganz gute Quote, denke ich – aber wir sind nicht bei Schneller, Höher, Weiter. Der Berliner Wohnungsmarkt ist hart umkämpft, das ist wirklich ein hartes Brot.
Die andere Sache ist: Man kann Leute, die lange auf der Straße waren, nicht ohne Betreuung in irgendeinen Wohnraum setzen. Wenn man lange auf der Straße gelebt hat, wenn man in eine Situation gekommen ist, dass man eigentlich alles verloren hat, dann zieht man sich nicht wie Münchhausen am Zopf aus dem Sumpf, sondern man braucht wirklich Hilfe. Die wissen nicht, wo sie Geld herkriegen, wo sie einen Personalausweis herkriegen, wie man ein Bankkonto eröffnet oder sind dazu gesundheitsbedingt nicht in der Lage. Und deshalb ist es so, dass wir über Housing First Leute unterbringen, die alleine dazu gar nicht in der Lage wären."

Die Menschen nehmen, wie sie hier und jetzt sind

Auch Klienten mit massiven Drogen- oder Alkoholproblemen werden bei Housing First Berlin ins Programm aufgenommen, anders als bei vielen anderen Ansätzen der Wohnungslosenhilfe. Die Losung lautet eben: Erst rein in die eigene Wohnung, dann alle weiteren Probleme anpacken.
Stefan Laurer ist von der Wichtigkeit dieses Aspekts überzeugt:
"Eines der wichtigsten Kernprinzipien des Housing-First-Konzepts ist eben der akzeptierende Ansatz, dass man die Menschen nimmt, wie sie hier und jetzt sind. Und wenn jemand eben irgendwie in der Lage ist, den Alltag zu sichern, dass da halt nichts schiefgeht, dann kann er auch mit dem massiven Drogenproblem erstmal hier aufgenommen werden und die Wohnung bekommen. Und dann schaut man eben ganz langsam."
Drogen- oder Alkoholentzug, Therapien und Behördengänge kommen erst nach dem Umzug in die eigene Wohnung. Stefan Laurer ist schon seit mehreren Jahrzehnten als Sozialarbeiter aktiv und überzeugt davon, dass diese Reihenfolge richtig ist – und dass die eigene Wohnung auch bei schweren Suchterkrankungen Leben rettet.
"Dann ist es trotzdem besser, wenn er seine Drogen in einem geschützten Raum, nämlich in seiner eigenen Wohnung konsumiert und nicht irgendwie in einem Hauseingang, wo er dann möglicherweise gebrauchte Spritze verwenden muss und sich dann zusätzlich dazu noch gefährdet", meint er. "Jetzt haben wir gerade einen Menschen, der als chronischer Alkoholiker aufgenommen wurde, und der ist jetzt seit sechs Wochen trocken – nach anderthalb Jahren Projektteilnahme."

Begleitung in der Pandemie schwierig

Auch Benjamin hat eine Drogen- und Alkoholgeschichte, er ist erst einigen Monaten clean und trocken. Ihn jetzt während der Pandemie nach seinem Einzug ganz engmaschig zu begleiten, war natürlich schwierig. Gemeinsame Treffen und Ausflüge bei Housing First wurden eingeschränkt. Die sogenannte "aufsuchende Sozialarbeit" konnte aber fortgesetzt werden, erzählt Stefan Laurer, weil das Projekt als systemrelevant eingestuft wurde. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hieß das: Sie konnten weiterhin Klienten besuchen, die alleine nicht klarkommen oder stark unter der Einsamkeit leiden.
Benjamin ist selbstständig und stabil, kommt regelmäßig im Büro von Housing First vorbei, um sich sein Geld abzuholen und Corona-Schnelltests zu machen. Mit anderen Klienten, denen es nicht so gut geht wie ihm, machen die Sozialarbeiter Spaziergänge an der frischen Luft oder besuchen in Ausnahmefällen auch die Wohnung. Dabei wird natürlich auf die Einhaltung der Hygieneregeln geachtet.
In Sammelunterkünften und Wohnheimen mit Mehrbettzimmern Abstand zu beachten, den Kontakt zu anderen zu minimieren und damit gesundheitliche Sicherheit zu schaffen, hält Stefan Laurer kaum für möglich.
"Ich habe da einen Kandidaten, den wir Anfang April in eine Wohnung vermitteln konnten, den hatte ich in seiner Unterkunft mal besucht, weil Dinge zu erledigen waren, und da habe ich dann gedacht: Meine Güte, das wäre jetzt eine wichtige Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschen nur so kurz wie möglich in diesen Unterkünften bleiben müssen."

Alternative zur Sammelunterkunft: betreutes Wohnen in Köpenick

In Köpenick am südlichen Rand Berlins steht das Haus der "PlattenGruppe", eine Unterkunft für Wohnungslose und Menschen in Not. Das Wohnhaus ist voll belegt, 24 Plätze gibt es hier. Die Menschen sind in Dreier-WGs organisiert, die selbst für Ordnung und Organisation zuständig sind. Die Sozialarbeiter des Diakonischen Werks greifen nur ein, wenn es mal zu wild wird. Hier besuche ich Lutz.
"Du kannst hier alles abschließen, es ist alles relativ sicher. Und eigentlich sehr schön gelegen, wir haben einen schönen Garten hier, wir wohnen hier ganz gemütlich", sagt er. "Wir haben eine eigene Küche, eine eigene Dusche mit Toilette, Warmwasser. Mein Zimmer ist bisschen klein, aber im Gegensatz zum Auto ist es groß. Das nennt sich betreutes Wohnen."
Lutz' derzeitige Unterkunft ist keine große anonyme Sammelunterkunft, sondern ein schönes Altbau-Wohnhaus mit kleiner Gartenfläche nach hinten raus, vom Stadtzentrum braucht man eine gute Dreiviertelstunde. Die Plattengruppe war ursprünglich eine Selbsthilfeinitiative von Obdachlosen, die kurz nach dem Mauerfall 1990 das leerstehende Gebäude bezogen und mit großem Eigeneinsatz und Unterstützung durch die Nachbarschaft herrichteten. Platte machen, das bedeutet umgangssprachlich obdachlos sein, auf der Straße schlafen.
Der Sozialarbeiter Jürgen Putze-Denz war von Anfang an dabei, arbeitet noch heute hier und erklärt mir die Geschichte des Projekts:
"Die Bauselbsthilfe, die haben das Haus mal selber instand gesetzt und das ist das Besondere. Das war 1990, Arme haben das Haus hier gerettet und sich gesichert und wir Sozialarbeiter waren nur begleitend dabei. Das Hauptanliegen war immer Wohnen und Arbeiten in Selbsthilfe. Jeder kann was und jeder soll sich nach seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten an der Hausgemeinschaft beteiligen. Und jeder soll schauen, dass er sich in seinen Fähigkeiten nochmal ein vernünftiges Zuhause schafft. Das ist für arme Menschen immer sehr schwierig, denn wer einmal in die Armut reingerät, das ist nicht nur eine schiefe Ebene, sondern nochmal extrem schwierig, da wieder rauszukommen. Die Leute bleiben zwischen anderthalb bis zwei Jahre, die Älteren so wie Lutz bleiben in der Regel bisschen länger."

Mit 800 Euro Rente eine Wohnung finden

Im Gegensatz zu Housing First besitzt die Plattengruppe Räume, in denen Männer wie Lutz erstmal aufgefangen werden können. Ziel ist aber auch hier – und darin besteht die Hauptarbeit – die Suche nach eigenen Wohnungen für die Untergebrachten. "Wohnungssuche ist eines der Hauptziele, Arbeitslosengeld-zwei-Empfänger haben es extrem schwer, weil die Vermieter natürlich nach Einkommen gehen, sodass die Armen bei der Wohnungssuche in der Regel wieder rausfallen. Wir vermitteln jedes Jahr zwischen vier und acht Leute in Wohnraum, jung und alt. Wobei wir immer von kleinen Wohnungen reden. Einzimmer-Wohnungen, Anderthalb-Zimmer-Wohnungen, die bezahlbar sind. Das heißt, um die 450 bis maximal vielleicht 490 Euro warm Und dann reduziert sich das schon."
Lutz kleine Rente von rund 800 Euro lässt kaum Spielraum bei der Wohnungssuche, der angespannte Berliner Wohnungsmarkt scheint keinen Platz für einen wie ihn zu haben. Und auch für das "Housing First"-Projekt ist er, seitdem er hier untergebracht ist, kein Kandidat mehr. Denn Housing First vermittelt nur Menschen direkt von der Straße in Wohnungen, hilft also da, wo bisher keiner geholfen hat.
Die Fassade des Wohnblocks ragt grau in den Himmel.
Im Ostberliner Plattenbau hat "Housing First" eine Wohnung für Benjamein gefunden.© Deutschlandradio / Vincent Lindig
Kennengelernt habe ich Lutz vor drei Monaten beim Besuch einer Suppenküche für Hilfsbedürftige in Berlin-Neukölln. Er ist gerade 70 Jahre alt geworden und lief bei Minusgraden mit Badeschlappen rum, kalte Füße kennt er scheinbar nicht. Lutz ist ein Berliner Original, ein wandelndes zoologisches Lexikon – und war damals schon seit zwei Jahren obdachlos. Er erzählt mir, wie es dazu gekommen ist:
"Ich habe in einer Wohnung gewohnt, ich habe regelmäßig meine Miete bezahlt. Mein Vermieter, der hatte in der Wohnung über mir über 25 Bulgaren gehabt. Und diese 25 Leute haben natürlich auch sich gewaschen und geduscht und irgendwann sind dann die Dichtungen oder die Wasserleitungen kaputt gewesen. Dann habe ich gesagt, die sollen die reparieren, dann hatte ich auf Mietminderung gemacht, in fünf Jahren haben die nicht meine Wasserleitung repariert. Die Häuser sind dermaßen runtergekommen. Mein Vermieter hat gesagt: Ich krieg dich raus, ich krieg dich raus. Der eine heißt Michael Peter, aber er soll wohl noch einen Bruder haben oder Zwillingsbruder. Ja, und dann stand ich auf der Straße."

Verlierer im ungleichen Machtkampf

Die Peter-Brüder, das sind Michael und Thilo Peter, zwei berüchtigte Hausbesitzer mit schlechtem Ruf. In ihrem Besitz befinden sich in Berlin gleich mehrere Wohnhäuser, die in katastrophalem Zustand sind: im Winter ausgefallene Heizungen, marode Bausubstanz, Überbelegung. Eins ihrer Häuser in Neukölln wurde im vergangenen Jahr zu einem Corona-Hotspot, alle Bewohner mussten in Quarantäne. Die Probleme sind bekannt, die Liste der Vorwürfe ist lang. In Lutz' alter Wohnung leben inzwischen mehrere Rumänen, wie er ohne Bitterkeit erzählt. Die Peter-Brüder vermieten vor allem an osteuropäische Einwanderer, gerade Roma beschweren sich nicht so schnell und reparieren Probleme selbst, sagte Michael Peter in einem ZDF-Beitrag.
Lutz gibt diesen Geschichten für mich jetzt ein Gesicht, er wurde zum Verlierer in diesem ungleichen Machtkampf. Mit seiner kleinen Rente hat er einfach keine neue Wohnung gefunden. Die Brüder Peter haben seine Wohnung jetzt teurer vermietet, ein 70 Jahre alter Mann ist auf der Straße gelandet. "Ich wollte nicht auf der Straße stehen und deshalb habe ich dann hier dieses Angebot gekauft: So, das ist mein Auto. Er klingt hohl! Ist kein Mercedes, ist eben bloß ein Fiat. Aber wie gesagt, ich bin zufrieden mit dem Ding, habe mir das eingerichtet nach meinen Vorstellungen. Hab drinnen nicht gefroren, hab eine gewisse Gemütlichkeit drinnen gehabt, denn durch die Regale habe ich ja die Bücher und das alles so immer griffbereit gehabt. Das ist mein Zuhause, über zwei Jahre. Richtig gemütlich. Ich habe da richtig wohlig drin geschlafen."

Lutz wohnt zwei Jahre im Auto

Lutz' Auto steht in einer belebten Straße im angesagten Neuköllner Schillerkiez. Er öffnet für mich die Tür des kleinen Kastenwagens: Anziehsachen, Tüten, Pappbecher, ein kleines Regal an der linken Seite mit Büchern, DVDs und Magazinen, ganz vor ein Sammelalbum mit dem Best-of von Bob Marley. Die Decke und die Seitenwände des Wagens sind von innen mit notdürftig befestigten Kunststoffmatten gegen die Kälte isoliert. Mittendrin in diesem Durcheinander liegt eine Matratze – aber wie kann man auf so wenig Raum schlafen oder sogar leben?
"Hier drunter, so quer schlafe ich. Das ist eine Kindermatratze, ne ganz normale, käufliche Kindermatratze. Meine Matratze ist 60 mal 1,60. Dann komm ich hier so rein, dann kann ich richtig schön unter die Steppdecken, die werden nach hinten gerollt, dann werden die ausgerollt, und dann, wie gesagt, in fünf Minuten habe ich es wohlig-warm. Guck mal, das hier ist das Viskosezeug. Das ist wirklich wunderbar. Ich habe hier bei -5 Grad 3 Grad, teilweise 4 Grad gehabt. So hier meine Bücher und meine Zeitungen, das habe ich hier. Aber die Leute regen sich auf, das kann ja nicht, das gibt’s nicht, das ist ja unnormal. Mit einem Auto müsste man fahren. Man müsste als normaler Bürger eine normale Wohnung haben und unter normalen Wohnverhältnissen leben können."

Von der Couch in ein Wohnprojekt

Anfang Februar fegt dann eine Kältewelle über Deutschland. Bis zu -15 Grad in den Nächten, das übersteht man im Auto nicht, ich mache mir Sorgen um Lutz. Und erfahre, dass er von Bekannten auf der Couch aufgenommen wurde. Von dort kommt er in das Betreute-Wohnen-Projekt, wo ich ihn zwei Wochen später besuche. Eine Übergangslösung, die zumindest ein wenig Raum für Privatsphäre bietet, auch wenn Küche und Bad mit anderen Bewohnern und Bewohnerinnen geteilt werden müssen.
"Ich fühle mich eigentlich wohl hier", sagt Lutz. "Aber das Schlafen ist nicht ganz so gemütlich wie in meinem Auto. Woran es liegt, ich weiß es nicht. Nee, ich will alleine sein, ich brauch hin und wieder meine Ruhe. Ich bin gerne unter Menschen, wenn es geht, Jugendliche. Ich habe nicht gerne Kontakt zu so alten Männern. Weil ich mich dann irgendwie selber sehe. Ich will kein alter Mann sein!"
Er spürt wohl: Solange es noch kalt ist, braucht er das Dach über dem Kopf. Auch wenn er manchmal am liebsten sofort in sein Auto zurückziehen würde. "Mein Auto ist gemütlicher als die jetzige Unterkunft. Wenn das Auto wieder fährt, dann will ich irgendwo hin fahren an einen See, sich hinstellen, Sonnenuntergang genießen und lesen. Oder eben: Ich bin müde, stehe morgen früh mit den Hühnern auf."
Die Wohnungssuche liegt jetzt in den Händen der Plattengruppe, aber das kann dauern: in der Regel etwa zwei bis drei Jahre. Lutz ist zwar dankbar, dass ihm geholfen wird, er stellt aber seine ganz eigene Rechnung auf. "Tja, die versuchen. Ich werde noch acht, neun Jahre leben. So rechne ich, länger will ich auch gar nicht leben. Ich werde nicht 91! Ich muss erstmal hier zur Ruhe kommen und dann das Leben so genießen, wie sich das Leben eben gerade zurzeit zeigt. Wenn der Schwarze früher kommt mit der Sense, dann ist zu Ende. Darauf muss man sich einstellen."

Benjamin hat Pläne

Benjamin Scharb will noch mehr vom Leben, jetzt, wo er endlich ein Dach über dem Kopf hat. Als ich ihn in seiner Wohnung besuche, erzählt er mir auch von seinen Plänen, die er für die Zukunft schmiedet. Und wie schwierig es momentan ist, diese nicht aus dem Auge zu verlieren, inmitten einer Pandemie:
"Ich habe Ende letzten Jahres ein Praktikum gemacht als Koch. Ich würde auch gerne eine Ausbildung als Koch machen, aber durch die ganze Corona-Sache ist das alles ein bisschen schwierig. Aber ich werde auf jeden Fall dranbleiben, das ist so der Beruf, der mir Spaß macht, weil ich kann ja nicht nur für mich kochen, ich kann ja auch ein bisschen was für meine Hunde mitkochen."
Als ich mich mit Benjamin ein paar Monate nach unserem ersten Treffen nochmal zum Kochen und Reden verabreden will, erreiche ich ihn nicht in seiner kleinen Wohnung im sechsten Stock des Plattenbaus in Hellersdorf. Sondern in Süddeutschland. In einer Reha. Er erzählt mir, dass er wieder Drogen genommen hat, ein Rückfall. Jetzt also erstmal Entzug und Therapie, wieder auf die Beine kommen. Irgendwie klingt er am Telefon trotzdem zuversichtlich und gut gelaunt – genau wie bei unserem ersten Gespräch. Die Reha mache er auch, damit seine Hunde sich in der Natur ein bisschen erholen können, sagt er. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Housing First Berlin stehen in engem Kontakt mit ihm.
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