O. Westin: "Micro Science Fiction"

Kürzer geht's nicht

04:42 Minuten
Das neue Werk von O. Westin: Stories im Twitter-Format.
Das neue Werk von O. Westin: Stories im Twitter-Format. © Verlag Mikrotext
Von Marten Hahn · 22.07.2019
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Der Autor O. Westin schreibt Science Fiction-Geschichten im Twitter-Format. Jetzt sind die extrem kurzen Storys in Buchform erschienen - unser Kritiker Marten Hahn hat zu kleinen Diamanten verdichtete Prosa gefunden.
"Sie gab ein Vermögen für eine Zeitreise aus, um ihren Lieblingskünstler zu treffen. Er bat darum, ein Portrait von ihr malen zu können. Sie saß da, war nervös, bis ihr ein Licht aufging. Sie lächelte. Geheimnisvoll."
Das war‘s. Die Entstehungsgeschichte der Mona Lisa in 215 Zeichen. In jedem anderen Buch wäre das ein Auszug. Im Fall "Micro Science Fiction" ist das schon der ganze Text. Beziehungsweise einer von vielen. Das Büchlein aus dem Hause Mikrotext – der Verlag macht seinem Namen mal wieder alle Ehre – versammelt Tweets von O. Westin.
Der britische IT-Spezialist veröffentlicht seit 2013 komprimierte Prosa auf Twitter. Mehr als 75.000 Nutzer folgen heute seinem Account @MicroSFF. Man würde den Autor gern fragen, wie erleichtert er war, als das soziale Netzwerk die Zeichenzahl im November 2017 von 140 auf 280 Zeichen anhob. Oder ob es sich eher um eine schmerzvolle Veränderung handelte? Aber mehr als der verkürzte Name und Beruf von O. Westin sind nicht bekannt.

Winzige Diamanten

Die ausgewählten Science-Fiction- und Fantasy-Geschichtlein stammen aus dem Zeitraum April 2013 bis Mai 2018. Es geht um neue Spielzeuge, neue Gesellschaftsentwürfe, neue Menschen. Westin schnappt sich aktuelle Debatten (Werden Roboter uns irgendwann auslöschen?) oder Sci-Fi-Szenen (Wie sprechen wir mit den gerade gelandeten Aliens?) und verdichtet das Material, bis Anfang, Mitte und Ende verschmelzen. Bis nur noch ein winziger, polierter Diamant übrig ist.
Das Ergebnis ist manchmal witzig, manchmal philosophisch und manchmal beides. Egal ob Westin zu bekannten Sci-Fi-Zutaten greift, wie Zeitmaschinen, fliegenden Autos und Cyborgs oder sich Ideologie-Scanner am Flughafen herbeifantasiert: "Der Sicherheitsscanner piept; der Polizist hält mich an. 'Nichts Schlimmes, aber wir haben eine Spur von Sozialismus gefunden.' 'Meine Oma ist aus Schweden.' Er lässt mich durch."

Jedes Wort zählt

Die zurechtgedrechselten Tweets von Westin aus dem Englischen zu übersetzen, dürfte nicht immer einfach gewesen sein. Jedes Wort zählt. Birthe Mülhoff hat die Texte dennoch meist erfolgreich ins Deutsche übertragen. Mikrotext veröffentlicht "Micro Science Fiction" zeitgleich auf Deutsch und Englisch, was tückischerweise dazu einlädt, die Text nebeneinander zu legen, wenn ein Sci-Fi-Mini-Abenteuer in der deutschen Ausgabe keinen Sinn ergeben will.
So findet sich dort folgende Geschichte: "Tag 3: Der Lego-Roboter kann jetzt neue Roboter bauen. Tag 5: Aus Legosteinen. Die Roboter haben einen 3D-Drucker gefunden. Tag 6: yhjmGEBT UNS PLASTIK ODER MENSCH STIRBT".
Was passiert an Tag 5? Aus Lego Steinen? Ein Blick in den Originaltext zeigt: "Day 5: Out of Lego pieces" steht da. Was zu übersetzen wäre mit "Lego-Steine sind alle." Und schon ergibt die Mini-Geschichte wieder Sinn.
So eindrucksvoll die Twitter-Prosa von O. Westin auch ist - es bleibt die Frage, warum man all das in Buchform kaufen soll. Schließlich gibt es die Tweets von Westin kostenlos im Netz. Antwort: Weil jedem nicht technologisch erweiterten Menschen nach einer Minute Twitter-Lektüre der Kopf explodiert und man je nach Filterblase drei Minuten später bei Katzenvideos oder politischem Schlamm-Catchen landet ist.
Das bleibt einem dank Mikrotext nun erspart.

O. Westin: "Micro Science Fiction"
Aus dem Englischen übersetzt von Birthe Mülhoff
Mikrotext, Berlin 2019
192 Seiten, 14,99 Euro

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