"Nurejew" von Kirill Serébrennikow

Eine Feier männlicher Schönheit

Nahaufnahme von Serebrennikows ernstem Gesicht hinter Gittern. Er lehnt mit einer Hand an den Gitterstäben. Er trägt eine Baseballmütze verkehrt herum und eine blaue Jeansjacke.
Der russische Regisseur Kirill Serébrennikow steht noch immer unter Hausarrest. © Alexander Zemlianichenko / AP / dpa
Wiebke Hüster im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 09.12.2017
Die Premiere wurde abgesagt, der Regisseur Kirill Serébrennikow steht unter Hausarrest - doch das Ballett über den Tänzer Rudolf Nurejew kam nun doch in Moskau zur Aufführung. Es sei schlicht "ein großartiges Ballett", findet unsere begeisterte Kritikerin.
Nur einen Steinwurf vom Kreml und vom Stammsitz des KGB entfernt liegt das Bolschoi-Theater und um Rollen wir hier nicht weniger hart gekämpft als auf der anderen Seite um Macht und politischen Einfluss. Vor vier Jahren erschütterte das Säure-Attentat auf Ballettdirektor Sergej Filin weit über die Tanzwelt hinaus. Filin brauchte Monate und unzählige Operationen in Deutschland, bevor er wieder in der Öffentlichkeit erschien. Vladimir Urin, seit zwei Jahren Intendant des Bolschoi-Theaters, hat sich eine Befriedung der internen Verhältnisse vorgenommen. Dass dies nicht einhergeht mit risikolosen künstlerischen Entscheidungen, beweist die jüngste Premiere im Bolschoi-Theater. Denn für das Libretto, das Bühnenbild und die Regie des Ballettabends "Nureyev" zeichnet der im August verhaftete Film-, Schauspiel- und Opernregisseur Kyrill Serebrennikov verantwortlich.
Die Absage der Premiere im Sommer wenige Wochen vor seiner Verhaftung muss auch kein Zeichen politischen Einknickens des Intendanten gewesen sein. Beobachter sagen, die damaligen halböffentlichen Proben und einzelne kursierende Filmaufnahmen davon hätten vielmehr offenbart, dass die Produktion noch nicht fertig, noch nicht premierenreif gewesen sei. Trotzdem hatte man nicht sicher sein können, dass die Premiere jetzt im zweiten Anlauf wie angekündigt stattfinden würde. Die angespannte Atmosphäre im ausverkauften Theater sprach davon. Schließlich sitzt Serebrennikov unter Hausarrest in seiner Moskauer Zweizimmerwohnung, muss Fußfesseln tragen und hat nicht mehr als zwei Stunden Ausgang pro Tag. Ansprechen können Familie und Freunde ihn nur über seinen Anwalt, Versuche, das zu tun, enden meistens jedoch erfolglos.

Serebrennikov ist sehr gegenwärtig

Er lebt also in Isolation. Das Team, Komponist Ilya Demutsky, Choreograph Yuri Possokhov und Kostümbildnerin Elena Zaitseva hat die Produktion am Ende allein herausgebracht. Aber Serebrennikov ist sehr gegenwärtig – nicht erst beim Applaus spürt man, dass das Publikum an ihn denkt, wenn nämlich Komponist und Choreograph in T-Shirts auf die Bühne kommen, auf denen ein Foto Serebrennikovs prangt und die Worte "Freiheit für den Regisseur". Das Ballett, das er geschrieben hat, ist sehr gut. Das Libretto nicht chronologisch, sondern greift einzelne Eigenschaften, Leidenschaften auch, von Nureyev heraus und beleuchtet diese Szene für Szene. Erzählt wird dies nicht nur in Begegnungen mit Menschen, die Nureyev als Partners in Crime liebte – Margot Fonteyn, Erik Bruhn, Alla Osipenko und Natalia Makarova, sondern auch anhand von Gegenständen, die sich in Nureyevs Besitz befanden und von großer Bedeutung für ihn waren.
Es ist eine besonders kluge Idee von Serebrennikov, die Szenerie gleich zu Beginn und durch das Stück hindurch immer wieder in eine Auktion zu verwandeln, bei der die Lose ikonischer Objekte aufgerufen werden. Nureyev liebte Antiquitäten aller Art, er hatte seine Pariser Wohnung vollständig im Stil des 19. Jahrhunderts eingerichtet, aber auch seine anderen Wohnsitze waren voller Kostüme des 18. Jahrhunderts, Möbel, Teppiche, oder Bilder etwa von Géricault. Die Versteigerungen, die nach seinem Tod in seinen Wohnungen stattfanden, erbrachten Millionen und bildeten so das Vermögen für die Nureyev Foundation. Das Ballett zeigt den Auktionator und sein aus ehemaligen Kollegen und Verehrern Nureyevs bestehendes Publikum.

Briefe dankbarer und liebevoller Verehrung

Anfangs überschneiden sich diese Szenen mit Bildern der Arbeit im sowjetischen Ballettsaal und dann der Flucht. Pas de deux' zeigen die engen tänzerischen und emotionalen Beziehungen mit Bruhn und Fonteyn. Exemplarische Briefe dankbarer und liebevoller Verehrung, die ihm Kollegen schrieben, werden verlesen. Große Ensembleszenen werfen Licht auch auf Nureyevs promiskuitive bis anonyme Homosexualität. Seine musikalischen und choreographischen Vorlieben werden gespiegelt in Auszügen aus Balletten. Possokhov verwandelt diese und fügt sie ein in seinen sehr virtuosen, hochmusikalischen tänzerischen Erzählfluß. Das Corps de ballet aus dem Schattenakt von "La Bayadère" ist mit Männern durchsetzt. Das Gerüst aus Glen Tetleys für Nureyev choreographiertem Arnold-Schönberg-Ballett "Pierrot Lunaire" ist plötzlich von vielen jungen schönen Männern besetzt. Eine Gala wird zur Manege von Tigern, die einander im Hochspringen übertreffen wollen.
Lully und Rameau inspirieren Ilya Demutskys großartig illustrierende Musik, wenn eine Barocktanz-Szene Nureyev als strahlenden Sonnenkönig seines Reiches an der Pariser Oper zeigt. Serebrennikovs Libretto und Regie demonstrieren, was man mit dem Ballett alles erzählen kann, wenn man weiß, was was man sagen will. Dieses Ballett, abseits seiner ganz außergewöhnlichen tänzerischen, ausstatterischen, und musikalischen Schönheiten, verbindet ganz unterschiedliche Fragen miteinander.

Unglaublich gute Darstellung von Nureyev

Erstens will es Nureyevs Bedeutung für den Tanz diskutieren, seine eigenen tänzerischen Qualitäten, sein Charisma, sein Stilverständnis, seine Aufwertung des Männertanzes, seine Auffassung von Repertoire. Zweitens fragt es nach den Konsequenzen des Lebens in der Diktatur, den Folgen der Entscheidung für oder gegen die Emigration. Zweitens knüpft es an die ungeheuerliche Freiheit an, mit der Nureyev seine Sexualität lebte. Wenn Vladislav Lantratov, der Nureyev unglaublich gut darstellt, am Ende aidskrank und tödlich geschwächt, sich von Ankleidern und Physiotherapeuten helfen lassen muss und als Dirigent im Orchestergraben steht, dann das Licht verlöschen sieht, ist das Nureyevs Lebenslicht. Es mag kitschig klingen, was man von solchen besonderen Menschen sagt, aber es ist wahr: Ohne sie kommt den Hinterbliebenen die Welt dunkler vor.
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