Nur Gast auf dieser Erde

12.06.2012
Erdverbundenheit ist ein zentrales Thema des neuen Gedichtbandes von Wulf Kirsten. Auffällig an den Gedichten ist, dass ihnen trotz der Verbundenheit jedwede Erdenschwere fremd ist. Vielmehr zeigt sich Kirsten in seinen Texten als scharfer Beobachter und kluger Analyst.
Der Erde, so heißt es in Wulf Kirstens Gedicht "die erde bei Meißen", schreibe er "beidhändig ins gästebuch" einen "einsilbigen gruß". Dieses Gedicht schrieb der 1934 in Klipphausen bei Meißen geborene Steinmetzsohn im Alter von dreißig Jahren. Das darin zum Ausdruck kommende Bewusstsein, nur Gast auf dieser Erde zu sein, hat sich bis in die Gedichte der jüngsten Zeit gehalten.

Eine Sammlung mit Gedichten aus den Jahren von 1954 bis 2004 trägt den Titel "erdlebenbilder" und im "Stimmenschotter" - so der Titel des 1993 erschienenen Gedichtbandes - sucht er nach dem verlässlichen und unverwechselbaren Ton. In der Sprache wendet er sich dem Erdreich zu und beide will er in seinen Gedichten kultivieren. Die dadurch entstehenden Sprachskulpturen, zeichnen sich durch einen außergewöhnlichen Reiz aus. Kirsten vermag Punkte in der Landschaft zu einer Linie zu verbinden, die dem Wort Schönheit einen Halt zu geben vermag.

Der Raum bekommt so seine Sprache, das Wort findet zur Natur und wird wieder ursprünglich. Diese Naturgedichte sind erdgebunden und weisen doch von der Landschaft immer wieder auch in gesellschaftliche Räume, in die Individuen von einer launischen Natur hineingestellt worden sind.

Erdverbundenheit ist ein zentrales Thema des neuen Gedichtbandes "fliehende ansicht". Auffällig an den Gedichten ist, dass ihnen trotz der Verbundenheit jedwede Erdenschwere fremd ist. Kirsten registriert Beben, denn der Erdengrund ist in Bewegung. Die Erde weist Scharten auf, Wunden sind zu erkennen und wer Erdenbilder zu lesen weiß, der sieht, wo die "wahrheitsscheuen gesellen" ihre Spuren hinterlassen haben.

Wulf Kirstens poetische Meisterschaft besteht darin, dass das Erdenfeste und das Gesellschaftsflüchtige im Gedicht zueinanderfinden. Die Poesie wendet sich der "verdinglichten welt" zu, sie zeigt - so im Gedicht "das eigentliche" - wie Inszenierungen das Wirkliche beherrschen und sie als bloßes "affentheater" verstellen. "in dicken schwaden qualmen die phrasen, / vollmundig in den himmelgeblasen", heißt es im Gedicht "denkfiguren".

Sich gegen die Hohlheit wendend, von dem das Geschwätz so übervoll ist, hört Kirsten im Gedicht "landstieg" dem "grundton der erde" nach. Er wendet sich in "geschönt" von den ins Blaue formulierten Vorhersagen ab, den Prognosen, die nicht halten, was versprochen wird, weil "die elemente / blankweg verwerfen, was ihnen zugedacht".

Äcker und Wiesen, so hat es Wulf Kirsten einmal gesagt, erweisen sich "als unerschöpflicher Erlebnisfundus". Sie sind der "große Hof" seines Gedächtnisses. Diesen Hof durchwandert Kirsten in dem vorliegenden Gedichtband erneut. Er ist unterwegs auf einer Parzelle, die überschaubar erscheint, aber in ihr spiegelt dieser außerordentliche Sprachmagier die Welt. Erdversunken spannt er in seiner "körnigen" Sprache einen Bogen, und der reicht von der Erde bis zum Himmel.

Besprochen von Michael Opitz

Wulf Kirsten: fliehende ansicht
Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2012
80 Seiten, 16,95 Euro

Links bei dradio.de:
Lyrische Zeitreise
Wulf Kirsten (Hg.): "Beständig ist das leicht Verletzliche", Ammann Verlag, Zürich 2010, 1119 Seiten
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