Nüsttal in Hessen

Wie eine Gemeinde die Generationen zusammenbringt

10:54 Minuten
Zwischen sanften Hügeln und in Mitten grüner Wiesen liegt der Ort Nüsttal in Hessen.
Im hessischen Nüsttal wird ein gemeinsames, generationenübergreifendes Leben gezielt befördert. © Deutschlandradio / Ludger Fittkau
23.01.2020
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In der jüngsten Gemeinde Hessens stemmt sich die Bürgermeisterin dagegen, dass Menschen wegziehen und die Dörfer veröden. Kindergarten und Seniorentreff haben ein gemeinsames Haus. Nur einer der Gründe, warum der Generationenaustausch im hessischen Nüsttal funktioniert.
Während die Kinder in der kommunalen Kita von Nüsttal in der hessischen Rhön sich spielerisch mit dem Abschmelzen der Pole auseinandersetzen, haben sich rund 20 betagte Frauen und Männer der Gemeinde in einem Raum gleich nebenan in einen großen Kreis gesetzt.
Unter Anleitung einer Pflegerin bewegt die Gruppe zur Musik aus dem Lautsprecher rhythmisch Arme oder Beine. "Tanzen im Sitzen" heißt diese Morgengymnastik.
Eva-Maria Müller leitet die Tagespflegeeinrichtung für Alte, die mit der Kita in einem modernisierten ehemaligen Schulhaus der Gemeinde Nüsttal kombiniert ist. Die Altenbetreuerin betont, wie wichtig die Morgengymnastik mit den Alten ist:
"Sie glauben nicht, wie diese kleine Bewegung für die Koordination wichtig wird. Alle Angehörigen sagen eigentlich immer, wenn die von hier zurückkommen: Die sind viel beweglicher geworden, viel aufmerksamer. Weil diese Hirn-Feinmotorik-Schranke überwunden wird und dann nimmt im Alltag auch irgendwie die Flexibilität wieder zu. Zu Hause sitzt man dann doch da, macht nur bestimmte Bewegungen, und hier werden halt ganz andere Körperteile bewegt. Und man muss immer nachdenken. Man ist ja bemüht, mitzumachen, im Takt zu bleiben. Und dann halt auch bei den anderen, sich nicht bloß zu stellen."

Gemeinsames Singen, Spielen und Kneten

"Jetzt kommen gerade die Kinder hier zu den Seniorinnen und Senioren. Und die machen jetzt was gemeinsam? Schauen wir mal."
Die Kinder setzten sich mitten im Stuhlkreis der Alten auf den Boden. Dann stimmen sie ein Lied an.
Nach dem Ende des Liedes ruft eine alte Frau ein Kind mit Namen Johanna. Das etwa vier Jahre alte Mädchen geht lächelnd auf die Alte zu, die erklärt, warum sie Johanna gerufen hat:
"Wir sind schon eine ganze Weile zusammen."
"Was heißt zusammen? Was macht man zusammen?"
"Gesungen, gespielt, mit Knete gearbeitet haben wir schon."
"Johanna, dann kennst Du auch schon die Dame. Weißt Du, wie sie heißt?"
"Ne."
"Sag mal Ilona."
"Ilona."
"Mein Name ist Marion Frohnapfel. Ich bin 50 Jahre alt und jetzt im sechsten Jahr Bürgermeisterin von Nüsttal."

Heimatort als sozialer Mittelpunkt

Es war Marion Frohnapfel, die mir den Weg vom Rathaus zur Kita ihrer knapp 3000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Gemeinde vor malerischer Bergkulisse in der Rhön gezeigt hat.
"Ich bin hier geboren und auch aufgewachsen. Im Laufe meines beruflichen Lebens, ich bin Diplom-Verwaltungswirtin, habe ich natürlich Nüsttal mal verlassen, gar keine Frage. Aber ich bin gerne wieder hierher zurückgekehrt und habe mit meinem Mann gemeinsam ein Haus hier gebaut, zwei Kinder, und habe von daher hier meinen sozialen Mittelpunkt."

Sozialer Mittelpunkt – das ist nicht nur privat ein Schlüsselbegriff für die Arbeit der Bürgermeisterin. In jedem der acht Ortsteile gibt es Gemeinschaftshäuser. In der alten Schule im Ortsteil Silges sind deshalb nicht nur die Kita und die Tagespflegeeinrichtung für Alte untergebracht. Sondern es gibt auch einen großen Veranstaltungsraum für die Bürgerschaft, der gleichzeitig auch von den Kindern für Sport und Spiel genutzt werden kann.
Zwei Plakate mit Schlagworten. Auf einem steht, was Kindern gut tut und auf dem anderen, was den Senioren gut tut.
Senioren und Kinder verbringen in Nüsttal den Tag gemeinsam unter einem Dach.© Deutschlandradio / Ludger Fittkau

Alt und Jung kommen ins Bürgerhaus

Auch im von der EU geförderten neuen Rathaus von Nüsttal im ehemaligen Zonenrandgebiet ist gleich rechts neben dem Eingang zur Gemeindeverwaltung ein großer Saal. "Mehrgenerationenraum" ist auf einem Schild auf der Tür zu lesen.
Auf dem Weg zur Kita stoppt Bürgermeisterin Marion Frohnapfel dort kurz und erklärt, wie auch Alte mit Mobilitätsproblemen zu den Bürgerhäusern im Gemeindegebiet kommen:
"Also wir haben zum einen ein Gemeindemobil, das haben wir schon Jahrzehnte, da werden tagsüber die Kindergartenkinder gefahren und in den Leerstands-Zeiten können es Vereine und Initiativen nutzen und damit ihre verschiedenen Dienste erfüllen. Zum Beispiel wird er gerne vom Sportverein genutzt, der damit die Jugendmannschaften zu den Trainingsspielen fährt. Oder auch, wie gesagt, von Initiativen, um zum Beispiel die Senioren abzuholen, damit dann eine Möglichkeit entsteht, dass sie sich treffen können."

"Die Leute schauen, wo sie unterstützen können"

"Wer fährt dieses Mobil - müssen die Leute es selber fahren?"
"Ja, die müssen auch selber fahren, das ist ehrenamtlich. Wir stellen nur das Mobil zur Verfügung und ich muss natürlich eins wirklich noch sagen: Nachbarschaftshilfe wird hier noch groß geschrieben. Hier ist es wirklich noch so, dass die Leute rechts und links schauen, wo sie unterstützen können und wo vielleicht auch ein Bedarf sein könnte."
"So ein tolles Gemeindehaus ist zwar durch die EU und das Land gefördert, habe ich auf einem Schild gesehen, aber das ist ja auch kostenintensiv. Wie finanziert man sowas?"
"Wir sind in ganz starkem Maße auf Fördermittel angewiesen und auch unser Projekt Kinder- und Seniorentreff in Silges ist ein durch den Bund gefördertes Projekt und hat damit immer den Anschub. Wir brauchen den Anschub, damit wir etwas tun können. Das ist oft mit Fördermitteln verbunden. Wir sind nämlich sehr struktur- und finanzschwach. Von daher müssen wir immer sehr kreativ sein."

Jeder wird akzeptiert, wie er ist

Nun singen Alte und Kinder gemeinsam ein Lied, zu dem die Gymnastik weitergeht. Auch die Kinder kommen langsam ins Schwitzen. Tagespflegeleiterin Eva-Maria Müller betont, dass sich die Generationen hier auf Augenhöhe begegnen sollen. Mich bewegt eine Frage:
"Wie gehen die Kinder mit Dementen um? Das ist ja teilweise gewöhnungsbedürftig."
"Natürlich, wie wir es auch tun sollten, die lassen einfach jeden so sein, wie er sein will, und gehen auch ganz normal da drüber weg, wie man es auch als Erwachsener tun und akzeptieren sollte. Und deshalb ist dieser Kontakt auch sehr, sehr wertvoll, weil man so akzeptiert wird, wie man ist."
"Es sind ja jetzt zwei pädagogische Teams, die dann auch zusammen arbeiten müssen. Wie wird die Zusammenarbeit zwischen den Erzieherinnen und den Betreuern in der Tagespflege organisiert?"

Ein ganz natürlicher Kontakt

"Es gibt verschiedene Aktivitäten, die zusammen geplant werden, aber ansonsten steht hier die Tür auf. Die Senioren gehen rüber und die Kinder rennen hier durch, wenn sie hoch auf einen Spielplatz müssen oder wieder zurückkommen, wenn sie auf Toilette müssen. Und alleine da ist schon ein ganz natürliches Hin und Her-Gewimmel, natürlichen Kontakt kann man nicht planen. Den muss man laufen lassen. Und dann ist er auch gut."
Bürgermeisterin Marion Frohnapfel guckt auf ihr Handy.
Mit einer eigenen App informieren Vereine, Initiativen die Gemeinde über das Geschehen im Ort.© Deutschlandradio / Ludger Fittkau
Doch Bürgermeisterin Marion Frohnapfel denkt bei ihrer Idee von gemeinschaftsstiftenden Orten in der Gemeinde nicht nur an Kinder und Seniorinnen. Sie will auch die mittlere Generation der Berufstätigen nicht vergessen, die tagsüber in Fulda, Kassel oder sogar im rund anderthalb Verkehrsstunden entfernten Frankfurt am Main arbeiten.
Mit einer Gemeinde-App, die jetzt schon rund ein Zehntel der Bevölkerung auf das Handy geladen hat, kann man sich auch in der Ferne darüber informieren, was am Abend in der Gemeinde los ist:
"Zum Beispiel ist eine Versammlung, eine Jahreshauptversammlung verschoben worden aufgrund eines anderen wichtigen Termins. Und dann sieht er schon: Ah, heute Abend, ich muss doch nicht erst um sieben Uhr hin, sondern ich muss um sechs oder acht. Und genau das ist der Punkt. Dafür wollen wir sie haben. Damit einfach ein jeder ganz entspannt von seinem Ort aus trotzdem an dem Geschehen in der Gemeinde teilnehmen kann."

Bei Vereinen Werbung für die App gemacht

"Die Bedingungen für sowas ist, dass das auch funktioniert, dass die Vereine das auch entsprechend füttern mit aktuellen Daten. Möglicherweise auch jemand von der Gemeinde - also nicht ganz unaufwändig?"
"Vollkommen korrekt also, das lebt nur, indem möglichst viele das aktiv betreiben. Und deswegen haben wir auch gleich zu Start des Projektes alle Vereinsvorstände zusammengerufen. Wir haben insbesondere die Heimat und Kulturvereine sensibilisiert. Und haben sie unterwiesen und haben da ein massives Werbeprogramm ablaufen lassen. Ich sage mal: Das war sehr wichtig, wenn das so lange hin und her plätschert, dann wird es wieder weggenommen und schläft ein. Und natürlich haben wir von Seiten der Gemeinde da auch noch viel mehr Sachen selbst eingestellt."
"Es ist auch eine Art Amtsblatt?"
"Richtig. Das ersetzt nicht unser klassisches Amtsblatt, weil das ja noch förmlich wichtig ist. Aber wenn zum Beispiel ein Wasserrohrbruch ist, das ist für uns immer so ein klassischer Fall. Wir erreichen jetzt die Leute in den zwei, drei Straßen. Und da kann uns so etwas unterstützen. Dafür ist das gut."

Müde, aber glücklich nach Hause gehen

Inzwischen ist die Morgengymnastik im Kinder- und Altentreff im Ortsteil Silges beendet. Eva-Maria Müller zeigt mir zum Abschluss meines Besuches im Eingangsbereich noch das Motto, das man hier gemeinsam leben will, Tag für Tag:
"Das ist unser Motto hier, wenn ich alt bin, will ich nicht jung aussehen, sondern einfach nur glücklich. Das wollen wir hier an diesem Tag immer erreichen, wenn wir unsere Gäste abholen und die sollen glücklich nach Hause gehen. Müde, aber glücklich."
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