Nüchterne Schicksalspanoramen

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 20.04.2006
Die Amerikanerin Paula Fox kam 1946 mit 23 Jahren ins kriegszerstörte Europa. Ihre Begegnungen mit Überlebenden der Todeslager und ihre Eindrücke der zerstörten Städte schildert sie in "Der kälteste Winter" mit nüchterner Distanz. Sie vermeidet alles, was eine hitzige Anklage hätte werden können. Gerade dadurch gelingen ihr Bilder von großer Eindringlichkeit.
Sie war 23 und fest entschlossen, die Probleme ihres Lebens hinter sich zu lassen, als sie 1946 an Bord eines ehemaligen Kriegsschiffes nach Europa reiste. Nicht in ihrer Heimat, die für viele Exilanten zum Zufluchtsort wurde, meinte sie zu sich zu finden, sondern ausgerechnet auf dem kriegszerstörten alten Kontinent. Im Auftrag einer britischen Nachrichtenagentur besuchte sie Paris, Prag, Warschau und Madrid. Sie wusste wenig. Und was sie wusste, verstand sie nicht. Ihre Perspektive war die einer jungen Abenteurerin, die auf die Katastrophe, die sie vorfand, nicht vorbereitet war.

In Paula Fox‘ Buch liest man nicht die Agenturberichte, die sie seinerzeit abgefasst hat. Es sind Beobachtungen aus der Erinnerung. Doch "Der kälteste Winter" ist keine umfassende Darstellung von Menschen und Geschehnissen im kriegszerstörten Europa. Was sie schildert, ist die Atmosphäre unter dem Nachhall des Schreckens, sind Begegnungen, private Momente.

Da ist der 14-jährige polnische, in einem KZ geborene Waisenjunge, der vor ihr seine Arme wie Flügel hebt und senkt, als könne er seinem Unglück wie ein Vogel davonfliegen. Oder die Überlebende aus Dachau, die in einem Pariser Hotel die von ihr bestellten Weinflaschen mit einer Markierung versieht. Sie wollte keinen daran hindern, daraus zu trinken, sie wollte es nur wissen. Oder der Mann, dessen Zwillinge bei Josef Mengeles Experimenten in Auschwitz ermordet wurden, der zwischen "wütendem Gelächter und lauter Wehklage" nur noch lächeln konnte. Oder die rätselhafte Jüdin, die zu den Todeslagern fährt, weil sie die Scham des Überlebens kaum anders erträgt. Nicht die Worte sind es, nicht die Berichte von verstörenden Geschehnissen, es sind die ohnmächtigen Gesten, die in die Abgründe schauen lassen.

"Der kälteste Winter" beschreibt mit dem halben Jahr zwischen 1946 und 1947 nicht nur den "kältesten europäischen Winter seit 20 Jahren". Er steht auch als Sinnbild für eine im Eis erstarrte Gefühlslage auf dem Kontinent.

Mit diesem Buch setzt Paula Fox nach "In fremden Kleidern" ihre Autobiografie fort. Während der Blick in den Jugenderinnerungen nach innen ging, richtet er sich nun nach außen. Auch hier gehorcht ihr Erinnern nicht der Chronologie, nicht der objektiven Bedeutung von Ereignissen. An damaligen politischen Entwicklungen zeigt sie sich wenig interessiert, auch nicht an historischer Analyse.

Obwohl die zerstörten Städte und die dramatischen menschlichen Schicksale, auf die sie trifft, die junge Frau zweifellos verstört haben müssen, kommt das Buch ohne starke Gefühle aus. Der überall noch spürbare Schrecken des Krieges, die grenzenlose Armut - Paula Fox hält ihre Beobachtungen nahezu unbarmherzig nüchtern fest. Sie strebt Unparteilichkeit an, denn erst aus der Distanz gelingt es, präzise wie banale Verrichtungen, die feinsten Regungen der Seele zu schildern. Gerade weil sie sich nicht einmischt, gelingen ihr immer wieder Bilder von großer Eindringlichkeit.

Für sich selber scheint sie sich nicht zu interessieren, was nicht häufig anzutreffen ist in Memoirenliteratur. Selten enthüllt sie ihre damaligen Gefühle, nur einmal schildert sie ihr "herzloses Lachen", als der Pilot des Flugzeugs, in dem sie Warschau verließ, über eine Reihe deutscher Kriegsgefangener hinwegflog und den einen Flügel absenkte, als wollte er sie alle enthaupten. Sie tritt vielmehr als Beobachterin auf, als Sammlerin von Eindrücken. Obwohl sie Zeugin von größter Verzweiflung wurde, von Hoffnungslosigkeit und Agonie, wuchs in ihr die Überzeugung, dass Leben immer wieder neu beginnen kann.

Paula Fox schreibt respektvoll, als wolle sie die Menschen schützen, die durch brutale Gewalt ihrer Individualität, ihrer Intimität beraubt wurden. Sie vermeidet alles, was eine hitzige Anklage hätte werden können. Karg, detailgenau, schmucklos breitet sie ihre Porträts aus, hinter jedem Detail verbirgt sich der Stoff für eine große Erzählung. Mit wenigen Worten versteht sie ein Panorama von Schicksalen zu eröffnen. Wie schon in ihrem großen Roman "Was am Ende bleibt" beherrscht sie auf besondere Weise die Kunst der Verdichtung. Paula Fox ist und bleibt eine Meisterin der kleinen Geschichten.


Paula Fox: Der kälteste Winter
Erinnerungen an das befreite Europa.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Inge Herzke.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
157 Seiten, 16,90 Euro