NS-Terror und Gedenkstättenarbeit

Das Bedürfnis nach Wahrhaftigkeit

07:45 Minuten
Jugendliche gehen hinter dem Stacheldrahtzaun am 08.02.2017 in der Gedenkstätte Buchenwald in Weimar.
Auch für immer mehr junge Menschen sei das "Analoge der Objekte" faszinierend, so Volkhard Knigge, Stiftungsdirektor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. © picture alliance/dpa/Jan Woitas
Von Jens Rosbach · 08.04.2020
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Vor 75 Jahren wurden die Konzentrationslager befreit, am 11. April Buchenwald. Mit dem zunehmenden Rechtsruck kommen wieder mehr Menschen in die heutigen Gedenkstätten, um sich mit den historischen Fakten auseinanderzusetzen.
"So. Ich würde gerne mit Euch das Bild angucken. Das ist eine Fotografie von einer Deportation. Wissen alle, was eine Deportation ist?"
Berlin-Mitte, in der Gedenkstätte Stille Helden, kurz vor der temporären Schließung wegen der Pandemie. Bildungsreferentin Elisabeth Anschütz steht vor einem großen Schwarzweiß-Bild aus dem Jahr 1942. Es zeigt Männer mit einem Judenstern auf ihren Wintermänteln, jeder mit einem kleinen Beutel in der Hand, drumherum wachen Polizisten. Eine Gedenkstättenführung für Achtklässler.
"Vielleicht mal eine komplizierte Frage: Wer ist da – man sieht ihn aber auf dem Bild nicht? / (Schüler) Die Zuschauer, die dahinterstehen? / Genau. Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt: Weil, nach dem Krieg haben ganz viele Leute gesagt: Sie haben von der Verfolgung nicht gewusst, sie haben von der Vernichtung nicht gewusst. Aber: Die Leute, die da wohnen, in dieser Straße, die stehen hinter ihren Fenstern."
Die Gedenkstätte Stille Helden, eine kleine Dauerausstellung im Berliner Bendlerblock, erinnert an die wenigen Deutschen, die Juden in der NS-Zeit versteckten oder ihnen mit Lebensmitteln bzw. Geld halfen. Die 14-jährige Gymnasiastin Blanka überlegt, wie sie sich zu jener Zeit selbst verhalten hätte.
"Wenn ich in so einer Lage wäre, würde ich wahrscheinlich wirklich helfen, weil ich auch einfach so bin. Ich könnte nicht zusehen, wie jemand verhaftet wird oder hingerichtet, nur weil sie sagen: Du gehörst zu einer anderen Religion. Ich könnte es nicht tun, also ich würde da auf jeden Fall versuchen, einzugreifen und was unternehmen."
Auch ihr Klassenkamerad, der 13-jährige Bruno, hört aufmerksam zu. Denn in seinen Augen ist die NS-Geschichte hochaktuell.
"In letzter Zeit kommen ja immer mehr antisemitische Vorfälle, das kommt ja wieder auf. Und generell, jetzt gehe ich ins Politische, die AfD gewinnt ja jetzt in vielen Bundesländern an Macht, sage ich mal. Und das ist halt auch schon beängstigend."


"Wir haben ja in den vergangenen Jahren durchaus eine verstärkte rechtspopulistische Entwicklung in Deutschland. Das führt natürlich dazu, dass das Interesse da ist, noch mehr Faktenwissen über die nationalsozialistische Zeit zu haben."
Professor Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte Stille Helden, registrierte bis zur vorübergehenden Schließung einen enormen Besucheranstieg: Kamen vor zwei Jahren noch 16.000 in seine Ausstellung, waren es im vergangenen Jahr bereits 24.000. Eine Steigerung beobachtet er auch bei der übergeordneten Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die er ebenfalls leitet: 126.000 Besucher im vergangenen Jahr, 8000 mehr als im Vorjahr. Tuchel bilanziert, auch wegen der AfD-Hetze sei das Interesse an den NS-Ausstellungen gestiegen.
Zwei Personen schauen sich die Ausstellung mit Informationstafeln in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin an.
Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin: Auch wegen der AfD-Hetze sei das Interesse an NS-Ausstellungen gestiegen, sagt der Politikwissenschaftler Johannes Tuchel.© picture alliance/dpa/Bildagentur-online/Schoening
"Weil man ja auch wissen möchte, in welcher Art und Weise man dieser rechtspopulistischen Bewegung begegnen kann. In welcher Art und Weise alte Argumente – Fremdenhass, Antisemitismus – inwieweit das wieder aufgewärmt wird. Und ich denke, da haben Gedenkstätten durchaus eine aufklärende und informierende Wirkung."

Gedenkstätte Buchenwald im Fokus rechter Propaganda

Ähnlich gefragt ist die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Der Erinnerungsort in der Nähe von Weimar steht immer wieder im Fokus rechter Propaganda – zeigt aber konsequent Flagge: So hat die Gedenkstättenstiftung 2017 dem Thüringer AfD-Fraktionschef Björn Höcke ein Hausverbot erteilt; 2019 und 2020 wurde sogar allen AfD-Funktionären ein Besuch am Holocaust-Gedenktag untersagt.
Zitat: "Solange sie sich nicht glaubhaft von den antidemokratischen, menschenrechtsfeindlichen und geschichtsrevisionistischen Positionen in ihrer Partei distanzieren."
So die Gedenkstättenleitung. Stiftungsdirektor Volkhard Knigge berichtet von zahlreichen gezielten Provokationen von rechts – etwa durch einen sogenannten Volkslehrer.
"Er hat sich in eine Gruppenführung hineingeschmuggelt und hat dann im Krematorium die Fakten bestritten, dass alles, was in Buchenwald erzählt wird, als Lüge bezeichnet. Und er wollte das audiovisuell aufzeichnen und ins Netz stellen und damit natürlich diese Menschen, die sich für Buchenwald wirklich ernstlich interessierten, in ihrer Verstörung öffentlich vorführen."


Die Gedenkstätte Buchenwald komme mit ihren rund 500.000 Besuchern pro Jahr mittlerweile an den Rand ihrer Kapazität, berichtet Knigge. Das starke Interesse sei auch politischen Skandalen geschuldet – wie im Februar, als sich FDP-Politiker Thomas Kemmerich mithilfe der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen ließ. Die Gedenkstätte erklärte daraufhin Kemmerich zur unerwünschten Person – und bekam dafür viel Zuspruch.
"Da gibt’s dann so eine Art konstruktiven Schulterschluss zwischen Gesellschaft und Gedenkstätten, den ich insgesamt für sehr, sehr wichtig halte. Weil Gedenkstätten sind am Ende nur so glaubwürdig, wie die Gesellschaft, die sich diese Gedenkstätten leistet."
Am 11. April 1945 wurde das Lager Buchenwald von amerikanischen Truppen befreit. Durch die zahlreichen 75er-Jahrestage, beginnend mit dem Jahrestag der Auschwitz-Befreiung im Januar, erhielten die Gedenkstätten noch mehr Aufmerksamkeit, bis sie wegen Corona schließen mussten. Volkhard Knigge führt das gestiegene Interesse auch darauf zurück, dass viele junge Menschen mittlerweile übersättigt sind vom Internet und anderen digitalen Medien.
"Deswegen machen wir die Erfahrung, dass das Analoge einer Gedenkstätte, das Analoge der Objekte, der Zeugnisse, jetzt auch wieder faszinierend wird. Dass man wirklich sinnlich, mit Hand, Herz und Verstand, sich Geschichte aneignen kann – und nicht nur dadurch, dass etwas auf dem Bildschirm flimmert, von dem man dann irgendwann gar nicht mehr weiß, ist das nur ein Flimmern oder steckt dahinter auch eine Wirklichkeit?"
Verbrennungsöfen im Krematorium in der Gedenkstätte Buchenwald.
2019 und 2020 wurde allen AfD-Funktionären ein Besuch in der Gedenkstätte Buchenwald am Holocaust-Gedenktag untersagt.© picture alliance/dpa/Bildagentur-online/Schoening

"Wir werden bald keine Zeitzeugen mehr haben"

Auch Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, registriert ein wachsendes Bedürfnis, authentische Orte aufzusuchen.
"Die Zeitzeugen werden – aus biologischen Gründen – leider täglich weniger. Wir werden bald keine Zeitzeugen mehr haben. Und um dieses Thema dann auch zu vermitteln, ist dann der Besuch einer entsprechenden Gedenkstätte sicherlich eine der Möglichkeiten, im pädagogischen Bereich, um sich diesem Thema zu nähern."
In der Berliner Gedenkstätte Stille Helden ist die Schülergruppe froh, dass sie ihren Wandertag noch vor der Coronakrise für einen Exkurs in die deutsche Zeitgeschichte genutzt hat. So beschreibt die 14-jährigen Blanka ihren Eindruck:
"Ich finde halt auch, dass es wichtig ist, diese Geschichte zu kennen und zu wissen, wie schlimm das war. Damit man auch sozusagen realisiert, dass das nicht wieder passieren darf, dass man nicht zulassen darf, dass es sich wiederholt."
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