NS-Opfer Irmgard und Hans Litten

Der lange Kampf einer Mutter um ihren Sohn

29:53 Minuten
Collage aus zwei nahen Porträtbildern von Hans und Irmgard Litten.
„Keine Löwin wäre imstande, so lange und so ausdauernd um ihr Kind zu kämpfen“, sagte der Schriftsteller Max Fürst über Irmgard Litten. © Uccello
Von Tobias Barth und Lorenz Hoffmann · 05.05.2021
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Während die Nazis den Mutterkult als Kern ihrer Ideologie verbreiteten, musste die Mutter Irmgard Litten um ihren Sohn Hans fürchten. Der Anwalt durchlitt Haft und Folter und starb 1938 in Dachau. Ihre Hilfsversuche blieben vergebens.
"Die Muttergottesbilder, die Du mir geschickt hast, sind herrlich. Ich habe sie mir immer wieder angesehen und mich nicht entscheiden können, welche die schönste ist. … Ich würde sehr gern von der Schongauerschen Madonna in der Rosenlaube eine Photographie haben. Mir liegt an dem Bild sehr viel."
Ein Sohn schreibt seiner Mutter aus dem Konzentrationslager. Hans Litten, in der Weimarer Republik ein bekannter linker Strafverteidiger. Seit 1933 einer der prominentesten politischen Gefangenen des NS-Regimes. Über die Zustände im Lager darf er nicht berichten, nicht über die Torturen, denen er ausgesetzt ist.
So handeln die Briefe, die er seiner Mutter Irmgard aus der Gefangenschaft schreibt, von der Musik Johann Sebastian Bachs, von Literatur und Kunstgeschichte. Vor allem von der Kunst des Mittelalters, die sie beide lieben.
"Die Lochnersche Maria im Rosenhag ist sehr schön, aber die Rosen sind darauf nur äußere Staffage. Bei Schongauer aber kommt zum Ausdruck, dass Maria die Ursache ist – entsprechend der Zeile ‚Da haben die Dornen Rosen getragen‘ aus dem mittelalterlichen Marienlied –und auf diese Beziehung kommt es mir an: dass der tote Dornwald wirklich Rosen trägt, wenn Maria mit dem Kinde unter dem Herzen hindurchgeht – was ja die Menschen unseres Jahrhunderts meistens nicht mehr wissen."

Hans Litten lädt Hitler als Zeugen vor

Am 8. Mai 1931 zog sich der Rechtsanwalt Hans Litten die persönliche Feindschaft Adolf Hitlers zu, als er den Führer der NSDAP im sogenannten Edenlokal-Prozess als Zeugen vor das Moabiter Strafgericht laden ließ. Ein Trupp SA-Männer hatte im November 1930 das überwiegend von linken Arbeitern frequentierte Tanzlokal Eden in Charlottenburg überfallen. Bewaffnet mit Totschlägern, Knüppeln und Schusswaffen. 20 Arbeiter waren zum Teil schwer verletzt worden.
"Rechtsanwalt Litten wollte als Vertreter der durch Nazi-Terror Geschädigten nachweisen, dass die Partei selbst Gewalttätigkeiten ihrer Mitglieder dulde, ja sie hervorrufe. Darum wurde Hitler geladen, der Parteiführer." So erinnert sich Littens Kollege, der Jurist Rudolf Olden.
"Litten hatte nicht wenige Zitate aus der nationalsozialistischen Literatur zur Hand – ‚die Gegner zu Brei zerstampfen‘, ‚von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen‘ und anderes mehr –, er vernahm Hitler mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn ein paar Mal wütend und ließ ihn zwei Stunden lang beträchtlich schwitzen. Ob damals irgendjemand im Saal eine Ahnung hatte, dass er sich selbst das Urteil qualvollen Todes gesprochen hatte?"
Knapp zwei Jahre später, am 28. Februar 1933, am Tag nach dem Reichstagsbrand wird Hans Litten in sogenannte "Schutzhaft" genommen – am selben Tag wie Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Carl von Ossietzky. Für ihn beginnt ein Leidensweg durch Zuchthäuser und Konzentrationslager. Für Irmgard Litten, die sich bis dahin für eine unpolitische Frau gehalten hat, beginnt ein Jahre dauernder, zäher Kampf mit dem NS-Regime. Der Kampf einer Mutter um ihren Sohn.

Zäher Kampf mit dem NS-Regime

"Also wenn man wirklich das mal sich vor Augen hält, was diese Frau fünf Jahre lang getrieben hat an strategischem Vorgehen, um Hafterleichterung zu bekommen oder um zu ermöglichen, dass sie Besuchserlaubnis bekommt." Die Schauspielerin Patricia Litten, Nichte von Hans, Enkelin von Irmgard Litten.
"Das alleine ist wirklich etwas, was einem die Tränen in die Augen treibt. Und um zu wissen, dass man bei jedem Gang auf ein Gestapo-Hauptquartier erst mal den Gruß über die Lippen bringen muss: Heil Hitler! Und sich nicht verraten darf, aber strategisch sein muss und nicht einfach sagen kann, ihr Schweinehunde, sondern man muss ja, man will ja was erreichen, also was das für eine Kraft gekostet haben mag."
"Als am Tage nach dem Reichstagsbrand Hans Litten verhaftet wurde, da begann Frau Litten, wie eine Löwin um ihr Junges zu kämpfen. Sprichwörter stimmen nie. Keine Löwin wäre imstande, so lange und so ausdauernd um ihr Kind zu kämpfen." Der Schriftsteller Max Fürst, langjähriger Wegbegleiter und engster Freund Hans Littens.
"Sie mobilisierte alle ihre Freunde und Beziehungen. Es gelang ihr mehrmals, Hans das Leben zu retten, aber es war nur für neue Quälereien, neue Demütigungen. Immer wieder Versuche, kleine Erleichterungen zu erlangen, die dann am nächsten Tag widerrufen wurden. Ich habe damals gelernt, was Hass ist. Sie hasste die Nazis mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele."

Ideologischer Allmachtsanspruch: Muttertag im NS-Staat

"An einem Tag im Jahr unserer Mütter zu bedenken, ist von den skandinavischen Völkern übernommen worden. Während unserer Mütter an diesem Tage sich ihrer Mutterfreuden bewusstwerden sollen, ist es Pflicht aller Kinder, ja des ganzen Volkes der Mutter und den Begriff Mutter an sich Ehrfurcht zuteil werden zu lassen."
Im Mai 1934 hält Reichsinnenminister Wilhelm Frick eine Radio-Ansprache zum Muttertag. Die Nazis haben ihn zum offiziellen Festtag erhoben - neben dem Tag der Machtergreifung im Januar, dem Geburtstag des Führers im April oder dem Gedenktag der Gefallenen der Bewegung im November.
Das staatsoffizielle Ehren der Mütter soll den weiblichen Teil der Bevölkerung ansprechen. Und es verknüpft ganz praktische Alltagserfahrung mit ideologischem Allmachtsanspruch – hier ausgesprochen von der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink:
"Unser aller Mutter ist Deutschland. Und so, wie der eine oder der andere von uns vielleicht durch äußere Dinge erst am Vorabend des Muttertags noch daran erinnert war, seiner Mutter zu gedenken, so werden wir in vielen deutschen Menschen die innere Verpflichtung unserer gemeinsamen Mutter Deutschland gegenüber erst wieder wecken müssen. Wir gehen dabei immer von der Grunderkenntnis aus, dass die nationalsozialistische Weltanschauung eine Angelegenheit der deutschen Seele ist. Daraus ergibt sich, dass wir täglich und stündlich in den Herzen und Seelen eines jeden Deutschen das Recht unserer Weltanschauung pflanzen müssen."

Berufung auf vermeintlich nordische Tradition

Die Nationalsozialisten berufen sich auf eine vermeintlich nordische Tradition des Muttertages und überschreiben mit solch vager Mystik dessen historisch verbriefte Wurzeln. 1870 – also kurz nach dem Bürgerkrieg - hatte die US-amerikanische Frauenrechtlerin Julia Ward Howe einen Muttertag des Friedens eingefordert, 1907 griff die pazifistisch und methodistisch geprägte Anna Marie Jarvis aus West Virginia diese Idee auf und ließ bei einem Gottesdienst 500 Nelken verteilen – rote für die lebenden Mütter, weiße für die Verstorbenen.
Ihre Mühen um einen nationalen Muttertag wurden sieben Jahre später belohnt, als Präsident Wilson 1914 den Feiertag einführte. Die Begründerin selbst allerdings verbittert zunehmend darüber – denn sie muss mit ansehen, wie ihre idealistisch gemeinte Mütterehrung immer mehr kommerzialisiert wird. Wer an die Mutter denkt, der schenkt.
Nach dem Ersten Weltkrieg schwappt die Idee dann nach Deutschland hinüber: 1925 ruft die bürgerlich-konservative "Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung" einen überregionalen Ausschuss für den deutschen Muttertag ins Leben und verbreitet die Zehn Gebote zum Muttertag: Zweites Gebot: Stelle früh leuchtende Blumen auf den Tisch. Viertes Gebot: Schmücke das Grab mit den Blüten des Frühlings.

Arbeiterwohlfahrt organisiert Muttertagsfeiern

Im sozialdemokratischen "Vorwärts" erscheint 1931 eine deftige Kritik an diesem neuen Trend:
"Wir haben Kinder und haben kein Brot,
uns drücken Sorgen und Wohnungsnot.
Von der Ehre wird, wer kein Essen hat, auch nicht satt.
Muttertag – soll der uns retten? Uns fehlen die Windeln, fehlen die Betten."
Zu den großen sozialgeschichtlichen Konflikten der Weimarer Republik gehören auch die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Emanzipation. Als Stichworte seien exemplarisch das Frauenwahlrecht und der Abtreibungsparagraph 218 genannt.
Der Muttertag scheint ein Thema, das zwar einerseits auf Ablehnung bei den Anhängerinnen der Sozialdemokraten und Linken stößt, andererseits wird schon 1930 berichtet, dass selbst die Arbeiterwohlfahrt Muttertagsfeiern organisieren. Konservative erblicken darin ein Zeichen, "für die einigende Kraft des Muttertagsgedankens über die Parteischranken hinweg".
Und so fällt es nach der Machtübergabe NS-Ideologen wie Wilhelm Frick leicht, bei diesem Thema Sympathien zu wecken:
"Gar zu leicht geht man über den Pflichtenkreis der Hausfrau und Mutter hinweg und nimmt alle diese täglichen Aufgaben als selbstverständlich hin, wie zum Beispiel die Sorge für das leibliche Wohl der Familie, die Wohnungen und alles, was damit zusammenhängt, wohnlich und gemütlich zu gestalten. Doch damit allein ist es nicht getan, sondern es warten noch größerer Pflichten auf eine Mutter. Schwangerschaft, Geburt, das Stillen des Kindes wie die Sorge für das Wohl und die seelische Erziehung ihrer Kinder."

Folter und erfolglose Interventionen

Hans Litten verbringt das erste Jahr seiner Haft im "Schutzhaftlager" Spandau, im KZ Sonnenburg und im Zuchthaus Brandenburg. Vom Tag der Verhaftung an bemüht sich seine Mutter Irmgard, die Lage des Sohnes nach Möglichkeit zu erleichtern. Hans‘ Vater, Fritz Litten, war in Königsberg Rektor der Universität gewesen. Ein konservativer preußischer Beamter mit einflussreichen Freunden in deutschnationalen Kreisen.
An diese Leute wendet sich Irmgard Litten jetzt. An Kronprinz August Wilhelm von Preußen, Reichsbischof und NSDAP Mitglied Ludwig Müller und Hitlers Lieblingsdirigent Wilhelm Furtwängler. Sogar bei Hermann Göring wird sie vorstellig. Und bei Roland Freisler, Staatssekretär im Justizministerium und später Präsident des Volksgerichtshofes.
"Er war der einzige von den höheren Beamten, der mich unverschämt behandelte. Als ich eine Rechtfertigung meines Sohnes vorgetragen hatte, erklärte er: ‚Das ist alles nicht wahr. Wie können Sie sagen, daß Ihr Sohn aus Idealismus gehandelt hat! Hier habe ich es in den Akten. Ihr Sohn hat für den Felseneck-Prozeß von der Roten Hilfe allein die Summe von‘ - ich erinnere mich nicht mehr an die Summe, jedenfalls war sie sehr klein - ‚bekommen!‘", so erzählte Irmgard Litten es später selbst.

Freisler: "Es wird niemand etwas für Litten erreichen"

Im Felseneck-Prozess vom April 1932 vertrat Litten damals einen Kommunisten, dem der Mord an einem SA-Mann zur Last gelegt wurde. Sein bescheidenes Honorar bezahlte die bei den Nazis verhasste linke Rechtshilfeorganisation "Rote Hilfe".
"Er hat für diesen Prozeß Tag und Nacht gearbeitet, er hat nicht eine einzige Sache nebenbei übernehmen können. Mein Sohn hat seine kleinen Ersparnisse dafür ausgegeben, Schulden gemacht und sich totgearbeitet. Wollen Sie da bestreiten, daß er aus Idealismus gehandelt hat?"
Freisler: "Er ist in meinen Augen ein gewissenloser Mensch, für den ich unter keinen Umständen etwas tun werde."
"Dann habe ich hier nichts mehr zu suchen, es tut mir leid, dass ich zu Ihnen gekommen bin. Adieu."
Trotz allem hat Freisler sich doch an Hitler gewandt, um ein Wort für Hans einzulegen. Freisler bemerkte später zu Freunden: "Es wird niemand etwas für Litten erreichen. Hitler lief blaurot im Gesicht an, als er den Namen hörte."
Im Schutzhaftlager Spandau und dem Zuchthaus Brandenburg begegnet Hans Litten einigen der Männer wieder, die er in Moabit auf die Anklagebank gebracht hat. Jetzt sind sie Aufseher und Offiziere.
"Die haben natürlich ihr Mütchen an ihm gekühlt, die haben das so was von ausgekostet, ‚dieses Schwein‘ fertig zu machen. Die haben ja ihn nach wenigen Wochen schon so derartig…, seine Zähne waren zu Stumpen geschlagen, er hat das Augenlicht verloren", sagt Patricia Litten. Die Schauspielerin hat sich intensiv mit der Familiengeschichte befasst und 2016 in dem Theaterstück "Der Prozess des Hans Litten" ihre Großmutter Irmgard auf der Bühne verkörpert.
Die Schauspielerin Patricia Litten, aufgenommen am 13.03.2017 im Schauspielhaus in Nürnberg neben einem Poster, auf dem sie in der Rolle ihrer eigenen Großmutter, Irmgard Litten, zu sehen ist
Die Schauspielerin Patricia Litten hat sich intensiv mit der Familiengeschichte befasst und ihre Großmutter Irmgard auf der Bühne verkörpert.© picture alliance / Daniel Karmann
Noch 1933 rollen die Nationalsozialisten den Felseneck-Prozess wieder auf. Die damals verurteilten SA-Schläger sollen jetzt zu Helden stilisiert und dem inhaftierten Anwalt Hans Litten die Schuld am angeblichen Fehlurteil nachgewiesen werden. In Spandau wird er verhört.
"Da wurde er gezwungen, Leute zu verraten, Mandanten zu verraten. Er war so unter Folter, dass er das Schlimmste, was er sich je vorgeworfen hat, gemacht hat. Er hat falsch ausgesagt, und es war ihm so arg, dass er sich das Leben nehmen wollte und das hat er aber auch gesagt: ‚Ich nehme mir das Leben, weil alles, was ich unter Folter ausgesagt habe, einfach nicht gestimmt hat.‘", sagt Patricia Litten.

Irmgard Litten besorgt das Gift für ihren Sohn

Hans Litten schluckt Gift, dass er aber wieder erbricht.
"Mein Sohn sah wie ein Toter aus, noch nicht wieder recht bei Bewusstsein, so daß er mich zuerst nicht erkannte. Man hatte ihm den Magen ausgepumpt, die Schnittwunden genäht, Einspritzungen gemacht, um das Blut zu ersetzen. Als langsam die Besinnung wiederkehrte, fragte ihn der Kriminalkommissar Marowski: ‚Weshalb haben Sie diesen Selbstmordversuch gemacht?‘ Hans: ‚Weil alle Aussagen, die ich gemacht habe, falsch waren. Ich musste sie widerrufen, fühlte mich aber den mir angedrohten Folgen für den Fall eines Widerrufs nicht gewachsen.‘"
Irmgard Litten spricht nach dem Besuch bei Hans mit dessen Vernehmer.
"Werden Sie ihn am Leben erhalten können?"
Er antwortete lebhaft: "Sie können sicher sein, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht. Ich muß ihn ja dem Staat erhalten, der noch Aussagen von ihm braucht."
Ich: "Unter diesen Umständen wäre es mir lieber, mein Sohn wäre nicht zum Leben zurückgerufen worden."
Er: "Wenn wir seine Aussage haben, kann er mit sich machen, was er will. Dann haben wir kein Interesse mehr an ihm."
Was die Gestapo nie erfährt, ist, woher Hans Litten das Gift für seinen Selbstmordversuch hatte.
"Die Wahrheit ist, dass meine Großmutter, und auch - das apropos Mutter - ja x-mal gebeten wurde, ihm bitte Gift zu schicken! Weil er diese Folter nicht mehr länger aushält. Und die Mimi hat das gemacht."
Patricia Litten nennt ihre Großmutter Irmgard Mimi, so wie deren Söhne das taten.
"Ich bin selber Mama von einem Sohn... und ich muss wirklich sagen, ich fange sofort an zu heulen, wenn ich mir vorstelle, mein Sohn sagt: ‚Mama, ich kann nicht mehr. Die einzige Freiheit, die ich noch hab, ist zu gehen. Das ist meine einzige freie Bestimmung, die ich noch habe.‘ Und dann wirklich tatsächlich dieses Gift zu besorgen. Allein dieses Gift zu besorgen ist ja nun auch nicht ein Vorgang, der, na, das ist ja nun auch der Wahnsinn und den einzunähen in Futterale in Stoffe, ich weiß nicht was, an diesen ganzen Kontrollen vorbei und in Kauf zu nehmen, dass das eintritt… Aus Liebe!"

Mutterkitsch und rassistische Auslese

"Wir neigen uns vor deinem warmen Herzen
Mutter Du der Freuden und der Schmerzen
Dass Dein Bild im Leben uns begleite
Dass es segnend steh an unserer Seite."
Der völkische Dichter Willi Reeg liefert für die Muttertagsfeiern 1934 das chorische Melodram "Märchen einer Mutter". Die "Deutsche Feierstunde" am zweiten Sonntag im Mai lehnt sich unverhohlen an katholische Liturgien an – sowohl in der Form als auch im Inhalt, als Adaption der Marienverehrung. Freilich bezogen nicht auf Gott und die Muttergottes, sondern auf die Mutter als Trägerin der Erbmasse, als Garant der Fortpflanzung und Arterhaltung.
"Also, ich glaube erst einmal ist ganz wichtig zu verstehen, dass es irgendwie gar nicht um Mutterschaft als solches ging, sondern dass dieses Ideal von Mutterschaft sich nur auf Frauen bezog, die halt als rassisch wertvoll galten, Frauen bezog, die als erbgesund gehalten und als leistungsfähig. Nur diese Frauen sollten Kinder kriegen, und nur diese Frauen waren auch in der Propaganda angesprochen. Alle Frauen, die nicht in dieses Bild passten, sollten eben explizit keine Kinder bekommen."
Die Historikerin Wiebke Lisner hat über Biopolitik und den staatlichen Zugriff auf Geburtshilfe geforscht. Sie sieht eine Kontinuität zwischen dem Frauenbild der Kaiserzeit und dem der Nationalsozialisten. Anders als in der Weimarer Zeit sollten Frauen dort idealerweise nur Tätigkeiten nachgehen, die Mütterlichkeit und Hausfraulichkeit bedienen.
"Es ging nicht um das private Glück oder das persönliche Glück oder das einzelne Kind, sondern es ging immer letztendlich für die Volksgemeinschaft. Und dadurch sind diese auch lange vor dem Nationalsozialismus als weiblich gedachten Tätigkeiten eben aufgewertet worden. Und mit dem Einsatz von Männern gleichwertig betrachtet worden. Und darum glaube ich, bestand eine Aufwertung, was viele Frauen auch so verstanden haben und für sich auch so angenommen haben. Also viele Frauen haben das, glaube ich, durchaus als Ehrung erfahren."

Hans Litten zitiert "Die Gedanken sind frei"

1934 kommt Hans Litten in das KZ Lichtenburg in Prettin an der Elbe. Dessen Kommandant lässt die Häftlinge an einem der nationalsozialistischen Feiertage ein "Kulturprogramm" aufführen.
"Und Hans, er hat sich hingestellt, man muss sich das mal vorstellen, auf einem Auge blind, kaum noch gehen könnend, Herz, ganz schwere Herzschwäche, in einem desolaten Zustand in seinen Sträflingsklamotten vor diesen ganzen aufgebauten SS Menschen mit Gewehren und Prügeln und Hunden. Und er stellt sich da hin und er trägt dieses Gedicht vor:
‚Die Gedanken sind frei,
Wer kann sie erraten?
Sie fliegen vorbei
Wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
Kein Jäger erschießen
Mit Pulver und Blei,
Die Gedanken sind frei.‘"
Die Liebe zur Literatur, zur Kunst, zur Musik, all dem, was die Gedanken frei macht und was im Kulturverständnis der Nazis nicht vorkam, hatte Hans Litten von seiner Mutter. In ihren Briefen informiert Irmgard Litten ihren Sohn immer wieder in Andeutungen über ihre unermüdlichen Bemühungen um seine Befreiung.
Sie ist in die Schweiz gereist und nach Prag, um das Ausland auf Hans´ Schicksal aufmerksam zu machen. Hat den Juristen Lord Allen Hurtwood, einen englischen Bekannten ihres Mannes, veranlasst, eine Petition zu schreiben. Die wird abgelehnt. Nach drei Jahren im KZ Lichtenburg kommt Hans im Sommer 1937 nach Buchenwald, wenig später nach Dachau.

Besuch von Irmgard Litten in Dachau

"Das muss man sich wirklich vorstellen: Es hat niemals zuvor ein Privatmensch es geschafft, seinen Fuß nach Dachau zu setzen. Ich weiß nicht, was die Mimi getrieben hat, dass ihr dieser Besuch ermöglicht wurde. Und da hat sie eben, was sie da erlebt hat, war, das ist in dem Buch, das ist wirklich herzzerreißend. Es war nämlich ihr letzter Besuch. Das wusste sie nicht. Aber der Hans hat es geahnt."
"Ich sah ein sehr schmales und elendes Gesicht mit sehr müden, traurigen Augen. Leider konnte ich die Hände nicht sehen, da sie durch den hohen Tisch verdeckt waren. Ich sah nur eine Bewegung, die automatisch von Zeit zu Zeit nach der Herzgegend ging. Ein Zeichen, daß es mit seinem Herzen schlecht bestellt sein mußte. Er trug eine schäbige und abgerissene feldgraue Uniform, mit roten aufgenähten Streifen, auf denen ein runder gelber Fleck aufgenäht war. Ich fragte nach seinem Gesundheitszustand. Er sähe aus, als ob er Schmerzen habe. Er wehrte erschrocken ab und sagte klanglos: ‚Es geht mir ausgezeichnet!‘", so beschrieb Irmgard Litten die Begegnung mit ihrem Sohn.
Ein Zaun und ein Wachturm sind an der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau zu sehen
Gedenkstätte in Dachau: Bei ihrem Besuch im Lager sieht Irmgard Litten ihren Sohn zum letzten Mal.© picture alliance / Sven Hoppe
Wenige Wochen später, am 5. Februar 1938, erhängt sich Hans Litten in der Latrine, um der Folter bei einem für den nächsten Tag angesetzten Verhör zu entgehen. Noch einmal schafft es seine Mutter Irmgard Litten, einen Besuch im Lager durchzusetzen. An Hans´ Sarg nimmt sie Abschied. Und kann nur mühsam den Impuls unterdrücken, das Leichentuch fortzureißen, um den Körper des Toten auf Folterspuren zu untersuchen.
"Ich wusste, dass ich mit den Mördern meines Sohnes an seiner Leiche stand. Ich wusste, dass sie auf den Moment warteten, um bei mir zuzupacken. Ich rührte mich nicht, obwohl ich von Verzweiflung und wildesten Rachegedanken geschüttelt war. Aber ich wusste auch, dass die leiseste Bewegung mich auf ewig daran hindern würde, meine Vergeltungspläne auszuführen."

Nach dem Tod des Sohnes geht Irmgard Litten ins Exil

"So, jetzt ist ihre Lebensaufgabe beendet. Ihr Erstgeborener ist tot. Sie konnte nichts machen, sie hat alles versucht, sie ist gescheitert…. Was macht diese Frau? Sie geht in die Emigration, musste sie, zehn Tage später hat sie Deutschland verlassen. Und schreibt dort ihre Erinnerungen auf. Geht nach England. Geht zur BBC und macht Sendungen. ‚This is the voice of England‘ – und klärt die Welt auf. Und sagt: Kommt mal in die Puschen! Dieses Land muss zerstört werden, nicht die Menschen, diese Politik muss zerstört werden. Also was diese Frau geleistet hat aus dem Nichts!", sagt ihre Enkelin Patricia.
1938, als Irmgard Litten ins Exil geht, schließt sich Österreich an das Deutsche Reich an. Es ist das Jahr der Sudetenkrise und der Appeasement-Politik. Bei den Mütterehrungen verschwindet das Kultische und Mythologische an seine Stelle tritt banale Bevölkerungspolitik – wie hier in der Ansprache von Wilhelm Frick 1938 :
"Die Mütter entscheiden über das Schicksal der kommenden Generation mit Zahl und Gesundheit ihrer Kinder steht und fällt Deutschlands Zukunft. Keine noch so weitreichenden Erfolge, keine Höchstleistungen auf kulturellem, technischem oder wirtschaftlichem Gebiet vermögen den Bestand eines Volkes zu gewährleisten, wenn diese Quelle versiegt."
Es geht um Kinder für den Krieg, es geht um Soldaten. Der Staat fördert Familiengründung durch finanzielle Anreize. Paare können bei der Hochzeit ein Ehestandsdarlehen aufnehmen, sofern die Frau ihre Berufstätigkeit aufgibt. Das Darlehen kann dann abgekindert werden, wie es so schön heißt. Die Schuld sinkt pro Kind dann um ein Viertel.

Mutterkreuz als Anreiz für deutsche Frauen

1938 wird das Mutterkreuz eingeführt, ab 1939 wird es am Muttertag verliehen. Im Volksmund heißt es Nahkampfspange oder Karnickelorden. Für vier Kinder gibt es das bronzene, für sechs das silberne, für acht Kinder das Mutterkreuz in Gold.
Es sind auch diese Anreize, die viele deutsche Frauen empfänglich machen für ihre Zustimmung zum NS-Staat. Darauf weist die Historikerin Isabel Heinemann von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster hin.
"Am Grund dieser Auszeichnung steht ja auch eine rassistische Auslese. Also wer jetzt hier als deutsche Mutter geehrt oder gar mit dem Mutterkreuz ausgezeichnet wird, der bekommt quasi verbrieft, dass sie als arisch und erbgesund gilt. Und das ist sicherlich auch für viele Frauen attraktiv und ein Weg, indem man sich durch diese Anerkennung auch in die Volksgemeinschaft einschreibt. Frauen sind nicht nur passive Empfängerin dieser Auszeichnung dieser Huldigung, sondern die schreiben sich ganz aktiv in die Volksgemeinschaft ein in diesem Staat."

BBC-Ansprachen: Irmgard Litten nutzt ihre Bekanntheit

Im Frühling 1938 geht Irmgard Litten in die Schweiz, dann nach Paris. Dort erscheint ihr Erlebnisbericht über den Kampf um Hans zunächst auf Deutsch. Irmgard und der mittlere Sohn Heinz ziehen weiter ins Exil nach London.
"Dann hat sie es noch mal auf Englisch geschrieben. ‚A Mother Fights Hitler‘. Zwei Wochen später kam es in den Staaten raus. Unter dem Titel ‚Beyond Tears‘. Mit einem Wahnsinns-Vorwort von der First Lady, Eleanor Roosevelt, die dann geschrieben hat, ‚man kann stolz sein, dass es solche Leute wie Hans Litten und Irmgard Litten gibt‘. Sie war wirklich bekannt", sagt Patricia Litten.
Und Irmgard Litten nutzt diese Bekanntheit. Hält in der BBC Ansprachen an die deutsche Nation, appelliert an Frauen, an Mütter in Deutschland, sich dem Krieg zu widersetzen. Und beschäftigt sich 1943 in einer Anthologie deutscher Emigranten aus weiblicher Perspektive mit der Frage, wie die politische Zukunft Deutschlands nach Hitler aussehen könne.
"Ja, wo sie auch ganz klar sagt: Frauen hört endlich mal auf, lasst euch nicht instrumentalisieren. Ihr seid keine Gebärmaschinen. Ihr seid verantwortlich für die Jugend. Ihr prägt sie. Also kommt mal raus, ihr habt euch für Politik zu interessieren, weil es liegt an uns, diese Welt umzugestalten."
Ab 1943 werden überall im Reich am Muttertag auch Mütter geehrt, die Sohn oder Mann im Krieg verloren haben oder deren Kind oder Kinder bei Luftangriffen gestorben sind. Für immer mehr Mütter wird der zweite Sonntag im Mai ein Trauertag.

Feieranleitung vom Propagandaministerium

Das Propagandaministerium weist in seiner Feieranleitung zum Muttertag extra darauf hin, dass die Feierstunden – abgehalten nach festem Ritual als "Morgenfeier" – einen "besinnlich-frohen Charakter" haben sollen. Schmerz und Frohsinn, Kriegsbejahung und Lebensmut - die Feiern versuchen, Unvereinbares zu vereinbaren.
Beispielhaft dafür stehen Zeilen aus der Propagandaschrift "Die neue Gemeinschaft":
"Und heute, wenn wir an die Mutter denken,
tritt sie ganz fern aus einem Waldesrand
und winkt und grüßt und ruft
und trägt ein weißes Tüchlein in der Hand.
Das ganz von ihrer Tränen nass durchfeuchtet ist.
Doch wenn wir uns den Schleier aus den Augen wischen,
verweht das Bild vom Waldesrand –
wir hören hell der Kugeln Todeszischen
und klammern das Gewehr in unserer Hand."

Bayerische Regierung nennt sie 1950 eine "Vaterlandsverräterin"

In den letzten Kriegsjahren lebt Irmgard Litten als freie Schriftstellerin und Publizistin in England. Sie kümmert sich um Kriegsgefangene und widerspricht 1945 in ihrer Broschüre "All the Germans – are they really guilty" der Kollektivschuld-These. 1950 muss sie nach Deutschland zurückkehren.
"Die ganze Familie Litten war ja staatenlos. Und sie musste zurück und wollte sich im Süddeutschen niederlassen, wo noch so ein Teil ihrer Familie war. Und da hat ihr die bayrische Regierung alle Ansprüche auf eine Rente, auf eine Pension, auf ein Grundstück, was ihr ursprünglich mal gehört hat, abgesprochen mit der Begründung, sie sei eine Vaterlandsverräterin. Sie war vor dem Nichts, sie war alt, sie war krank, sie war komplett am Ende."
In der Bundesrepublik erscheint Irmgard Littens Buch "Eine Mutter kämpft gegen Hitler" erst viele Jahre später, 1984. In Ostdeutschland ist es dagegen schon 1947 erschienen. Dort lebt seit 1946 auch Irmgard Littens zweitältester Sohn Heinz. Als freier Theaterregisseur und zwischenzeitlich Intendant der Berliner Volksbühne.
"Und der Heinz hat gesagt, komm doch her. Du wirst hier geehrt. Und sie hat auch eine Rente bekommen dort, das muss man sagen. Also sie ist nach Ost-Berlin gegangen zum Heinz. Und hat dann aber relativ bald begriffen, als der Arbeiteraufstand dann brutal niedergeknüppelt wurde 1953, ist sie zehn Tage später gestorben. Ich glaube, das war wirklich der Punkt, wo sie nicht mehr konnte."

Die Geschichte von Irmgard Litten gibt es auch nachzulesen und nachzuhören:
Irmgard Litten: "Eine Mutter kämpft gegen Hitler"
ars vivendi, Cadolzburg 2017
296 S., 22 Euro

Irmgard Litten: "Trotz der Tränen"
uccello, Murnau 2013
3 CDs, 220 Min., 17,90 Euro

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