Dienstag, 16. April 2024

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Ermittlungsfehler im Missbrauchsfall Lügde
Schäffer: NRW-Innenminister hätte früher handeln müssen

Im Missbrauchsfall von Lügde werden immer neue Ermittlungsfehler bekannt. Bei deren Aufarbeitung müsse es nun primär um Aufklärung gehen, sagte die Grünen Landtagsabgeordnete Verena Schäffer im Dlf. Denn diese Fehler würden das Vertrauen in den Rechtsstaat massiv erschüttern.

Verena Schäffer im Gespräch mit Christiane Kaess | 27.02.2019
Missbrauchsfall in Lügde: Polizeibeamte stehen auf dem Campingplatz Eichwald vor der Parzelle des mutmaßlichen Täters
Die Aufarbeitung der Ermittlungspannen im Zusammenhang mit dem Missbrauchsfall in Lügde steht erst am Anfang (dpa/Guido Kirchner)
Christiane Kaess: Erst wurden jahrelang Kinder auf einem Campingplatz im nordrhein-westfälischen Lügde schwer missbraucht. Dann verschwinden massenweise CDs und DVDs mit Beweismaterial und dann informiert der zuständige Innenminister in NRW, Herbert Reul von der CDU, erst viel später, als das der Polizei auffiel, die Öffentlichkeit. Die Liste der Versäumnisse und Pannen dieses Falls von Kindesmissbrauch, der bundesweit Schlagzeilen gemacht hat, ist lang.
Und seit gestern wissen wir, es gibt weitere Verdachtsfälle und Ermittlungen. Das hat der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul in einer Sondersitzung des Landtags-Innenausschusses mitgeteilt. Er will jetzt alles lückenlos aufklären lassen, aber das glaubt die Opposition noch nicht so ganz und spricht weiter von einem möglichen parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Am Telefon ist jetzt Verena Schäffer. Sie ist parlamentarische Geschäftsführerin der oppositionellen Grünen im Düsseldorfer Landtag. Guten Morgen, Frau Schäffer.
Verena Schäffer: Guten Morgen.
Kaess: Räumt Innenminister Reul von der CDU jetzt endlich auf?
Schäffer: Zumindest sagt er jetzt selbst, dass er politische Verantwortung trägt und dass er alles dafür tun will, diesen Fall aufzuklären. Er hat letzte Woche im Plenum selbst gesagt, er wird die Aufklärung zu diesem Fall zu seinem Projekt machen, und ich denke, dass er sich an diesen Worten nachher wird auch messen lassen müssen.
"Wir müssen vor allen Dingen aufklären, was ist da schiefgelaufen"
Kaess: Aber in der Tat, er will es zur Chefsache machen, sogar mit einer sogenannten Stabsstelle Kindesmissbrauch. Ist das der richtige Weg?
Schäffer: Ja! Wir brauchen hier Aufklärung und ich finde, wir müssen vor allen Dingen aufklären, was ist da schiefgelaufen. Da gibt es einen Punkt, der mich besonders umtreibt: Die Kreispolizeibehörde Lippe, die die Ermittlungen auch rechtmäßig übernommen hat, ist ja eine sehr kleine Landratsbehörde. Wir haben in Nordrhein-Westfalen 47 Polizeibehörden, davon 18 Polizeipräsidien und 29 sogenannte Landratsbehörden, wo der Landrat der Chef der Behörde ist. Das sind zum Teil sehr kleine Behörden.
Aus meiner Sicht - und das wird in diesem Fall Lügde jetzt hier sehr dramatisch deutlich - sind diese kleinen Behörden für solche großen Ermittlungsvorgänge gar nicht entsprechend ausgestattet, weder personell, von der Anzahl der Köpfe her, aber vor allen Dingen nicht, was die Qualifikation angeht, was die Erfahrung mit solchen Ermittlungsverfahren angeht. Das ist aus meiner Sicht ein großes Problem und hier frage ich mich und das werfe ich dem Minister auch vor, warum man die Ermittlungen in diesem Fall nicht früher auf das Polizeipräsidium in Bielefeld übertragen hat? Möglicherweise, das ist jetzt eine Hypothese, aber möglicherweise wären dann viele dieser Ermittlungsfehler nicht passiert.
"Eine kleine Behörde einfach ungeeignet dafür"
Kaess: Von der Polizeistelle, von der Sie sprechen, von der heißt es auch, dass diese chronisch unterbesetzt sei. Da sagt der Bund Deutscher Kriminalbeamter, er hätte seit Jahren dazu gewarnt, und darin liegt jetzt wohl auch eine Ursache für die Versäumnisse. Die Ursachen liegen auch schon in der Vergangenheit und NRW war bis Sommer 2017 rot-grün regiert.
Schäffer: Da würde ich ein bisschen widersprechen wollen. Nicht, weil es rot-grün regiert war, sondern das sagt auch Herbert Reul als CDU-Innenminister, dass man diese Frage nicht so sehr nur an diesem Personalmangel festmachen kann. Ich habe auch noch mal mit dem Bund Deutscher Kriminalbeamter gesprochen. Auch die ziehen diesen Kausalzusammenhang so nicht. Man kann nicht sagen, …
Kaess: Aber Sie sagen ja selber, die Kompetenzen sind nicht da gewesen wie gewünscht.
Schäffer: Ja, genau. Es ist aber ein Unterschied, ob es einen Personalmangel gibt, sprich was die Anzahl der Köpfe angeht. Das gab es da womöglich. Da haben auch viele in der Vergangenheit drauf hingewiesen. Aber ich finde, das erklärt nicht, warum zum Beispiel Asservatenräume nicht abgeschlossen werden, dass die Türen da offenstehen, dass nicht richtig vermerkt wird, was wichtige Asservate sind, dass diese Datenträger verschwinden, dass ein Kommissarsanwärter an die Auswertung gesetzt wird.
Ich finde, auch wenn Personalmangel herrscht, dann darf das nicht passieren. Das darf keine Erklärung sein und ist es meines Erachtens auch nicht. Ich will eher auf die Frage abzielen, wenn ich die Strukturfrage anspreche, ob es von der Qualifikation her, von der Erfahrung her, von der Professionalität her in diesen Landratsbehörden richtig angesiedelt ist. Die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten tun da sicherlich einen engagierten Job. Aber die machen in der Regel nicht solche großen Verfahren, und ich glaube schon, dass so eine kleine Behörde einfach ungeeignet dafür ist.
"Sind den Opfern und Familien Aufklärung schuldig"
Kaess: Es gibt allerdings auch noch andere Spuren in dem Fall, die auch in die Vergangenheit zurückführen. Zum Beispiel, dass es schon 2016 Hinweise auf Kindesmissbrauch gegeben hätte, denen dann nicht genügend nachgegangen wurde, also auch das schon unter rot-grüner Landesregierung. Wie wollen Sie denn eigentlich die Versäumnisse in der eigenen Regierungszeit aufarbeiten? Wie wollen Sie denen nachgehen?
Schäffer: Erst mal will ich sagen, dass es 2016 schon Hinweise gegeben hat, das macht mich persönlich fassungslos, weil das sind Offizialdelikte, dieser sexuelle Missbrauch. Dem muss nachgegangen werden. Das ist hier offenbar nicht getan worden. Wir haben gestern erfahren, dass es noch weitere Hinweise gab, die in der Vergangenheit liegen. Ehrlich gesagt will ich ein bisschen wegkommen von der Frage Rot-Grün, Schwarz-Gelb.
Ich glaube, wir müssen, angesichts der Opfer - und die will ich hier noch mal in den Mittelpunkt rücken; es sind 31 Kinder und Jugendliche, die auf grausamste Art und Weise sexualisierte Gewalt erlebt haben. Um die geht es doch hier und ich glaube, dass wir es denen und ihren Familien schuldig sind, hier Aufklärung zu betreiben. Nur wer aufklärt und wer versteht, was die Fehler sind: Sind das individuelle Fehler oder sind das strukturelle Fehler - ich glaube, dass es ganz massiv auch strukturelle Fehler sind - nur dann kann man doch Konsequenzen ziehen. Das muss aus meiner Sicht jetzt im Vordergrund stehen.
Kaess: Aber für die Aufarbeitung verlangen Sie ja unter anderem oder denken zumindest nach über einen Untersuchungsausschuss und werfen Innenminister Reul Versäumnisse vor. Deshalb noch mal meine Frage: Wie wollen Sie den Versäumnissen in der eigenen Regierungszeit nachgehen? Bei wem wollen Sie denn da vielleicht auch mal nachfragen?
Schäffer: Momentan steht diese Frage Untersuchungsausschuss zwar im Raum, aber ich glaube, es ist noch der falsche Zeitpunkt, darüber zu sprechen. Wir haben jetzt den Ort des Innenausschusses und werden sicherlich auch in der nächsten Sitzung darüber noch mal sprechen. Wir haben auf jeden Fall als Grüne weitere Fragen.
Schäffer: Keine Belege für Vertuschung
Kaess: Und Ihre Fragen gehen auch weiter zurück an Leute, die davor in Verantwortung waren?
Schäffer: Na klar! Ich habe gestern nach den Ermittlungshinweisen aus 2016 selbstverständlich nachgefragt. Das ist auch Teil der staatsanwaltschaftlichen Aufklärung derzeit. Das ist ja Teil der Ermittlungen auch, die momentan laufen.
Kaess: Frau Schäffer, würden Sie im Moment so weit gehen, den Behörden Vertuschung zu unterstellen, oder kann man das alles noch unter unbeabsichtigten Pannen verbuchen?
Schäffer: Ich hoffe, dass es unbeabsichtigte Pannen sind, dass es Schlamperei ist. Und das ist schon fatal genug. Das ist schon dazu geeignet, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat und in die Polizei massiv erschüttert wird. Wenn es mehr wäre, wenn es Vertuschung wäre, wenn es bewusstes Verschwindenlassen von Akten wäre, dann wäre das für mich wirklich eine mittlere Katastrophe, oder nicht nur eine mittlere, sondern eine große Katastrophe für die Polizei. Dafür haben wir derzeit aber keine Belege. Auch das ist gestern in der Sitzung noch mal deutlich geworden, dass der Sonderermittler des LKA, der dort jetzt tätig ist, auch noch mal gesagt hat, es gibt derzeit dafür keine Belege. Deshalb wäre das Spekulation. Aber da sind wir uns, glaube ich, alle einig, dass auch schon, ich sage mal, die Schlamperei an sich ein großes Problem darstellt.
Kaess: Wenn Herbert Reul jetzt lückenfreie Aufklärung in dem Fall verspricht, ist das überhaupt noch möglich, nachdem Beweismittel verschwunden sind?
Schäffer: Na ja, er muss vor allen Dingen lückenfrei auch die ganzen Vorgänge darstellen. Leider muss ich sagen, dass wir da ein Stück weit auch scheibchenweise auf Nachfrage hin immer wieder neue Details erfahren. Aber ich nehme es schon allen ab, dass es mit der Aufklärung allen ein großes Anliegen ist. Herr Reul hat es für sich zur Chefaufgabe gemacht und er trägt natürlich die politische Verantwortung als oberster Dienstherr. Und er wird, wie gesagt, sich daran messen lassen müssen, wieviel Energie er jetzt in diese Aufklärung reinlegt.
"Man hätte wissen müssen, dass Lippe das nicht stemmen kann"
Kaess: Was hätte er denn bisher besser machen können?
Schäffer: Na ja. Ich glaube wie gesagt, man hätte früher die Ermittlungen nach Bielefeld geben müssen. Denn viele Fehler - es gab insgesamt drei Durchsuchungen auf diesem Campingplatz - und bei der vierten Durchsuchung, die dann von Bielefeld durchgeführt wurde, wurden noch mal Datenträger, noch mal eine Festplatte, noch mal ein Laptop gefunden. Das ist aus meiner Sicht völlig unverständlich, wie das sein kann, dass das nicht früher aufgefunden wurde. Ich meine auch, dass das Ministerium schon im Dezember eigentlich hätte wissen müssen, aufgrund der riesengroßen Datenmenge, die man ja festgestellt hat, dass das die kleine Behörde Lippe überhaupt nicht leisten kann, personell nicht leisten kann.
Derzeit ist es so, dass Bielefeld das ja übernommen hat, aber noch weitere Polizeibehörden im ganzen Land mit der Sichtung der Asservate, der Datenträger beschäftigt sind. Und man hätte doch schon im Dezember eigentlich aus meiner Sicht wissen müssen, dass Lippe das gar nicht stemmen kann. Ich werfe dem Minister auch vor, dass er sich nicht kundig gemacht hat. Natürlich darf er nicht in die Ermittlungen inhaltlich eingreifen, das ist völlig klar. Aber ich finde schon, er hätte nachfragen können und müssen: Wie sind denn die Rahmenbedingungen vor Ort? Braucht ihr mehr Personal? Seid ihr technisch so ausgestattet? Wo können wir euch noch unterstützen und so weiter. Das ist ja nicht passiert. Zumindest habe ich nachgefragt und habe keine Antwort darauf bekommen, und das werfe ich ihm schon vor.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.