Notsituationen

Warum viele lieber leiden, als um Hilfe zu bitten

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Die Illustration einer Frau mit verschlossenen Augen, die am Boden sitzt — eine Hand streckt sich zu ihr und will helfen.
Hilfe anzunehmen, fällt vielen Menschen schwer. Es gilt als Eingeständnis von Schwäche. Aber gerade Schwäche zeigen, kann wahre Stärke sein. © Gettyimages / Maria Ponomariova
Von Susanne Krahe · 11.10.2020
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Anderen Menschen helfen – das fühlt sich meistens ziemlich gut an. Keine Ursache, mach ich doch gerne. Aber zum Helfen gehören zwei: Eine Person, die hilft, und eine, die Hilfe annimmt. Und das fällt oft schwerer, als man glaubt.
"Wenn die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten", behauptet das Sprichwort. Aber in Krisenzeiten auf die Hilfe von höheren Mächten zu bauen, kommt den meisten Zeitgenossen heute naiv vor. Für medizinische Probleme sind der Arzt bzw. das Gesundheitssystem zuständig, für die materiellen Härten der Sozialstaat, und für die Reparaturarbeiten an den seelischen Baustellen bieten sich psychologische Beratungsstellen an. Religion und Kirche haben zwar immer noch den Ruf, Trost und Beistand zu spenden, aber die Kirchen sind längst nicht mehr die einzigen Ansprechpartner in prekären Lebenslagen. Grundsätzlich ist diese Entwicklung zu begrüßen, meint der Diakoniewissenschaftler Thorsten Moos:
"Es ist ja eine ganz große, auch sozialstaatliche, wohlfahrtsstaatliche Errungenschaft, dass wir Rechtsansprüche auf Hilfeleistungen definiert haben. Es ist nicht mehr der Gnade eines anderen überlassen, ob ich jetzt Hilfe bekomme oder nicht. Sondern ich habe einen Rechtsanspruch darauf."

Helfen ist mehr als ein Vertrag

Hilfeleistungen lassen sich einkaufen und vertraglich festlegen, zum Beispiel im Bereich der Pflege. Aber die Beziehung zwischen Helfenden und Hilfsbedürftigen ist komplizierter als ein Vertrag, sagt Thorsten Moos.
"Weil das, was ich eigentlich brauche, oder das, worauf ich eigentlich vertrauen muss, nämlich, dass ich als Person in meiner Würde auch anerkannt bin, dass hier tatsächlich mir zugute gehandelt wird – das kann ich eben letztlich nicht vor Gericht einklagen. Das kann ich auch nicht im Kaufvertrag regeln."

Lieber frieren, als um Unterstützung zu bitten

Hannelore Hollstein erzählt von typischen Gesprächen beim Helfen: "Manche sagen auch: ‚Das kann ich doch nicht wiedergutmachen‘. Da kann ich nur sagen: ‚Das brauchen Sie auch nicht. Aber wenn es für Sie wieder gut ist, dann ist es gut.‘ Ich glaube auch nicht, dass man das gutmachen soll, wenn einem Gutes widerfährt. Man kann daraus lernen, selber besser zu werden."
Hannelore Hollstein war 35 Jahre Gemeindepfarrerin. In diesem Beruf wurde sie immer wieder damit konfrontiert, wie schwer es manchen Zeitgenossinnen fällt, die eigene Notlage einzugestehen: vor anderen, aber auch vor sich selbst.
Hollstein erinnert sich: "Ich besuche eine Dame zu ihrem 80. Geburtstag. Es ist Winter. Ich komme in eine Wohnung, die ist nicht geheizt. Die alte Dame sitzt da mit einer Decke über den Knien, schaut mich an und fragt mich: ‚Soll ich die Heizung höher drehen?‘
Dann erzählt sie mir, weil wir auch zu dem Zeitpunkt noch allein waren, dass sie nach dem Tod ihres Mannes sehr wenig Geld hat und Heizkosten sparen möchte. Und dann kommen wir ins Gespräch, und dann ist es manchmal auch möglich, dieser Frau zu helfen und zu sagen: Es gibt Angebote, öffentliche Angebote wie Wohngeld und Unterstützung. Wird aber oft auch abgelehnt, weil die Frauen dann sagen: Nein, das will ich nicht. Das soll keiner wissen."

Sich helfen zu lassen, passt nicht zum Zeitgeist

Um Hilfe zu bitten, bedeutet, Dinge öffentlich werden zu lassen, die man lieber geheim hielte. Es heißt, sein Innerstes nach außen zu kehren, die persönlichsten, mitunter intimsten Lebensumstände der Begutachtung und dem Urteil anderer auszusetzen. Diese Schamgrenze zu überschreiten, erfordert Mut und Selbstbewusstsein, aber auch einen enormen Leidensdruck. Dieser Druck wird durch einen Zeitgeist unterstützt, der die Selbstwirksamkeit des Individuums in den Mittelpunkt rückt. Thorsten Moos erklärt:
"Es gibt eine ganz starke Souveränitätszumutung: Ich muss mein Leben auf die Reihe bekommen, ich muss aus mir selbst heraus die Dinge schaffen, ich muss mich im Berufsleben qualifiziert zeigen, immer dann, wenn ein Projekt zu Ende gegangen ist, muss ich mich qualifiziert zeigen für das nächste.
Ich muss aufsteigen, ich muss mich als stark und unverletzlich zeigen, wenn ich krank bin, dann falle ich potenziell raus. Das kennen wir auch aus Biografien von Politikerinnen und Politikern, die aus Gesundheitsgründen aus dem Geschäft des Herrschens rausgehen, die sich als nicht mehr stark genug zeigen: Kranksein zum Beispiel als eine Form von Verwundbarkeit geht in solchen Situationen nicht."

Helfen ist leichter, als um Hilfe zu bitten

"Selbst wenn es ja sehr ersichtlich ist, dass jemand im Rollstuhl nicht alles kann und oftmals Hilfe braucht", sagt Gesine Marwedel. "Aber es gab wirklich Situationen, wo ich lieber versucht habe, auf dem Hintern die Treppe runterzurutschen und den Rollstuhl einfach die Treppe runterfahren zu lassen, als dass ich jemanden gefragt hätte, ob er mich die Treppe runterschieben kann. Das war schon sehr, sehr schwierig für mich, da habe ich tatsächlich, ich glaube, nicht ein einziges Mal jemanden gefragt, ob jemand mich einfach mal rausfahren könnte."
Ausgebremst und angewiesen: eine ganz neue Erfahrung. Nach einer Fuß-Operation konnte die freie Künstlerin Gesine Marwedel im wortwörtlichen Sinn eine Zeit lang nicht mehr auf eigenen Beinen stehen. Sie merkte, dass die Rolle der Hilfsbedürftigen schwieriger ist als die der Helfenden. Sie zeugt eben nicht von der eigenen Kompetenz und Verlässlichkeit, sondern signalisiert Unfähigkeit und Schwäche. Deshalb hat Gesine Marwedel es immer vermieden, andere Menschen um Hilfe zu bitten.
Als die junge Frau vor drei Jahren völlig überraschend ihre Arbeitsstelle verlor, war das ein solcher Schock, ein solcher Angriff auf ihr Selbstbild, dass sie den Antrag auf Arbeitslosengeld gar nicht erst stellen wollte.
"Ja, es hat ja auch was mit verletztem Stolz zu tun", erinnert sich Marwedel. "Man ist ja auch stolz darauf, dass man selbstständig ist, also dass man das eigene Geld verdient, dass man dafür arbeitet, dass man sich selber finanzieren kann, und dann wird man von außen auf einmal in eine Situation gebracht, wo man das eben nicht mehr kann, wo man für sich selber nicht mehr sorgen kann. Und man wird damit, ja, entwürdigt auch. Für mich war das sehr entwürdigend, dieses Arbeitslosengeld zu bekommen und überhaupt arbeitslos zu sein."

Schwäche eingestehen, ist wahre Stärke

Entwürdigung, Bevormundung, Demütigung: Aus ähnlichen Gründen lehnen ältere Menschen Haushaltshilfen für ihre Wohnung ab, selbst wenn ihre Kinder sie finanzieren wollen – oder sie lassen sich auch in Corona-Zeiten nicht verbieten, ihre Einkäufe selbst zu erledigen. Es geht um Autonomie. Wenn wir aber unsere Würde an dem Grad unserer Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmung bemessen, was ist dann mit all denen, die aus eigener Kraft nichts zustande bekommen?
Welche Rolle spielen Menschen, die immer nur flehen, abwarten und nehmen dürfen, die sich letztlich mit dem zufrieden erklären müssen, das andere ihnen zuteilen? Der Theologe Thorsten Moos plädiert für eine Neubewertung von Geben und Nehmen, von Autonomie und Autonomie-Verzicht in Hilfesituationen.
"Wenn man das unter dem Aspekt von Spiritualität, von Religion anguckt, dann merkt man, dass Autonomie und Autonomieverzicht viel, viel enger und intensiver zusammenhängen, als wir es normaler Weise diskutieren. Also zum Beispiel der Akt, Hilfe anzunehmen, jemanden in mein Leben hinein zu lassen, ist eigentlich ein sehr, sehr aktiver, wenn Sie so wollen, selbstbestimmter Akt. Ich muss mich dazu selber bringen. Ich muss mit mir übereinkommen, jemand anderen in einer entscheidenden Situation in mein Leben mit hinein zu lassen. Und das selbst ist schon ein autonomer Akt."
Ähnliches gilt auch für das Verhältnis von Schwäche und Stärke, von Angewiesenheit und Freiheit. Wer seine Angewiesenheit eingestehen und sich zu seiner Schwäche bekennen kann, ist in Wirklichkeit stark.
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