Notfallpädagogik

Erste Hilfe für traumatisierte Kinder

07:40 Minuten
Zwei Hände eines Erwachsenen halten die Hände eines Kindes.
Pädagoginnen, Ärzte, Lehrerinnen - verschiedenste Berufsgruppen können Kinder als Notfallhelferinnen in Krisengebieten unterstützen. © imago / fStop Images / Malte Müller
Von Philip Artelt · 09.08.2021
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Nach Hurrikans, Tsunamis, Erdbeben kümmern sich Notfallpädagogen um die Kinder. Sie reisen in Krisengebiete, im Koffer Jonglierbälle, Springseile oder Knetwachs. Es gibt konventionelle Hilfe und die der Waldorfs. Letztere zieht auch Kritik auf sich.
Der Einsatz beginnt mit einer E-Mail. In Karlsruhe geht ein Hilferuf vom anderen Ende der Welt ein – und für Lukas Mall und Fiona Bay beginnt der Stress.
"Zum Beispiel hatten wir im Dezember den Fall, dass der Hurrikan Iota und Eta in der Karibik ziemliche Verwüstung hinterlassen hat. Daraufhin kam bei uns eine Anfrage von einer ganz kleinen meeresbiologischen Organisation, also auch keine pädagogische Organisation, eine Anfrage mit der Bitte, können wir kommen? Wir brauchen jemanden, der was mit den Kindern macht."
Im Karlsruher Büro telefonieren sie, gehen die Liste mit mehreren Hundert freiwilligen Nothelfern durch. Pädagogen, Ärzte, Lehrer… Sie organisieren Unterkünfte und Visa. Und sie packen die Notfallkoffer.
"Da sind Jonglierbälle drin, da sind Springseile drin, Jongliertücher, ein Schwungtuch, also so ein Spielefallschirm, da sind aber auch Wasserfarben dabei und Pinsel, da ist mal Knetwachs dabei… Was ist da noch drin? Wachsmalkreiden, Tafelkreiden..."
"Und dann trifft man sich am Flughafen und fliegt los. Ganz einfach."

Das Schlimmste für die Kinder verhindern

Hier geht es nicht um medizinische Nothilfe, hier sind Notfallpädagogen im Einsatz. Nach Hurrikans, Tsunamis, Erdbeben wollen sie binnen weniger Tage das Schlimmste für die Kinder verhindern: ein Trauma, gravierende psychische Folgen. Lukas Mall ist Sozialarbeiter, jetzt leitet er die Abteilung Notfallpädagogik im Verein "Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners". Fiona Bay ist Krankenschwester und hat für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet, kennt also beide Seiten: die konventionelle Nothilfe und die der Waldorfs.
"Als ich im Südsudan zum Beispiel war, hatten wir viele Kinder, die ums Krankenhaus gelungert haben und nichts zu tun hatten. Da habe ich mir gedacht, das wäre so schön, wenn wir mit denen notfallpädagogisch arbeiten könnten."
2006: In Stuttgart findet ein Festival für Jugendliche statt. Auch eine Gruppe aus dem Libanon ist angereist. Doch die Reise endet dramatisch.
"Für die israelische Armee liegt der Fall klar: Sie befindet sich im Kampf gegen die militante Hisbollah im Libanon …"
In der libanesischen Heimat der Jugendlichen ist Krieg ausgebrochen. Der Waldorflehrer Bernd Ruf entscheidet sich, die Jugendlichen zurück in den Libanon zu begleiten.
"Da er gleichzeitig Sonderpädagoge ist, war ihm damals relativ schnell klar: Wenn man jetzt, am Anfang, diesen Kindern psychotraumatologisch beisteht, kann man mit verhältnismäßig wenig Aufwand relativ viele erreichen", sagt Lukas Mall.
Ruf trommelt ein Team zusammen: Therapeuten, Pädagogen, ein Kinderarzt – und reist ein weiteres Mal ins Krisengebiet.

Ehrenamtliche Notfelfer weltweit unterwegs

Inzwischen hat die Organisation festangestellte Mitarbeiter, sie finanziert sich durch private Spenden, große Spendenorganisationen wie die Aktion Deutschland Hilft und über Projektförderungen. Ihre ehrenamtlichen Nothelfer sind weltweit unterwegs: im Nordirak, im Gaza-Streifen, in Lateinamerika.
An manchen Einsatzorten führen lokale Mitarbeiter die Arbeit längerfristig weiter, zum Beispiel in Brasilien. Reinaldo Nascimento ist Sportlehrer und Heilerziehungspfleger in Sao Paulo. Sein erster Einsatz für die Notfallpädagogen war in Kenia in einem Flüchtlingslager.
"Und das war so: Für kleine Kinder gab es so etwas wie einen kleinen Waldorfkindergarten, sie blieben die ganze Zeit mit den Kleinkinderpädagogen zusammen. Und mit den Großen haben wir eine Absprache gemacht: Eine Stunde haben sie mit mir Musik gemacht, danach durften sie zum Beispiel Handarbeit machen und dann wieder Musik und dann wieder Eurythmie."
Malen, etwas erschaffen mit den Händen, Bewegung, Zirkuspädagogik… Es geht darum, den Kindern eine Struktur zu geben in einer chaotischen Umgebung. Das, betonen sie, sei der große Unterschied zu den offenen Hilfsangeboten anderer Organisationen, wo die Kinder kommen und gehen, wann sie wollen.
"Am Anfang war ganz… ‚Hey, du kommst hier, um mit uns zu singen …‘ Sie fragen immer nach Keksen zum Beispiel. Aber irgendwann kamen sogar viele Eltern zu uns: ‚Meine Kinder schlafen besser, meine Kinder haben aufgehört, ins Bett zu machen. Mein Kind schlägt mein anderes Kind nicht.‘ Das war schon ein schönes Feedback."

Einfluss der Anthroposophie

Welchen Einfluss hat dabei die Waldorfpädagogik? Die "Anthroposophie" genannte esoterische Lehre von Mensch und Universum, die immer wieder in der Kritik steht? Wo vom "Physischen Leib", vom "Ätherleib" und vom "Astralleib" die Rede ist?
"Auch, wenn wir diese Namen nicht nennen: Man sagt einfach, weißt Du, ein Trauma kann in die Knochen gehen. Das ist der physische Leib. Oder man sagt, das Trauma kann so bei dir angreifen, dass du nicht mehr richtig schlafen kannst, nicht mehr richtig essen kannst, nicht mehr richtig denken kannst. Und das wird nicht Ätherleib genannt, aber das Prinzip ist das gleiche."
Es gehe um den Blickwinkel auf den Menschen, betonen sie, nicht um einen Transfer von Ideologie. In der Arbeit vor Ort scheint es sowieso um die praktische Hilfe für die Kinder zu gehen, der theoretische Unterbau spiele dabei keine direkte Rolle.
Geldgeberorganisationen wie die UNO-Flüchtlingshilfe und die Aktion Mensch verweisen auf ihre strengen Regeln bei der Überprüfung der geförderten Projekte – Probleme mit den Notfallpädagogen sind dort offenbar nicht bekannt.

Kritik an der Waldorfpädagogik auf Jahrestagung

Ein etwas anderes Bild vermittelt die notfallpädagogische Jahrestagung. Vor allem in Bezug auf die Covid-Krise waren da Stimmen zu hören, die die Notfallpädagogik angreifbar machen: Impfkritiker, eine bei den Waldorfpädagogen seit Jahrzehnten verbreitete Technikskepsis...
Fiona Bay und Lukas Mall dazu:
"Hier sitzen zwei Menschen, die in vielen Momenten bei der Tagung auch schlucken mussten. Es ist immer noch eine individuelle Entscheidung der Person, was sie sagt und nicht sagt. Und wo beginne ich zu sagen: ‚Nein, das darf man nicht sagen, weil das schadet der Organisation, oder, oder?‘"
"Ich würde Ihnen da zustimmen, dass da zum Teil auch gewagte Thesen aufgestellt wurden. Aber da würde ich auch sagen, wir leben in einem Land, Gott sei Dank, wo man noch vieles sagen darf. Und dann automatisch darauf zu schließen, was tatsächlich das Bild der Organisation ist, wäre mir in dem Fall zu kurz gegriffen."
Die Coronakrise hat die Waldorf-Notfallpädagogen vor neue Herausforderungen gestellt. In Deutschland haben sie eine Krisenhotline eingerichtet, sie beraten Lehrer an Schulen, die mit suizidgefährdeten Jugendlichen umgehen müssen. Und selbst im Ausland sind sie weiterhin tätig.
"Bis jetzt haben wir große Gruppen gehabt, viele Kinder gemeinsam, und das geht nicht mehr. Deswegen haben wir letztes Jahr im Libanon nach der Explosionskatastrophe in Beirut angefangen, nur in Kleinstgruppen und mit Einzelfamilien zu arbeiten."
In Brasilien, bei Reinaldo Nascimento, hat die Coronakrise die Nothilfe ganz grundlegend verändert. Viele Menschen haben ihre Arbeit verloren, sie hungern, und so haben die Notfallpädagogen Lebensmittel und Hygieneartikel organisiert – ganz unpädagogisch, aber mindestens genauso wichtig.
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