Nostalgische Erinnerungen an die amerikanische Provinz

28.11.2007
Bill Bryson wurde 1951 in Des Moines, Iowa, geboren. 1977 zog er nach Großbritannien und schrieb dort mehrere Jahre u. a. für die Times und den Independent. Mit seinem Englandbuch "Reif für die Insel" gelang Bryson der Durchbruch. In "Mein Amerika" verklärt er seine Kindheit in den 50er Jahren, listet aber zugleich skurrile Merkwürdigkeiten auf.
Was soll man davon halten? Gleich zu Beginn seines jüngsten Buches stellt Bill Bryson apodiktisch fest:

"Ich kann mir keine erfreulichere Zeit und keinen glücklicheren Ort zum Leben vorstellen als die Vereinigten Staaten von Amerika in den 1950er Jahren."

Damit scheint klar zu sein: hier beginnt eine von abgründiger Ironie, vielleicht sogar Sarkasmus getränkte Bestandsaufnahme jener Jahre in den USA, die gekennzeichnet waren durch die Ängste vor "den Russen", die der Kommunistenfresser Joseph McCarthy geschickt für seine Zwecke zu steuern wusste, jener Dekade, die verdunkelt wurde durch die polizeilichen und richterlichen Manipulationen im Falle der "Atomspione" Ethel und Julius Rosenberg, die letztlich zu ihrer Exekution führten, und jener langen Tage, ja Wochen, in denen die hassverzerrten Gesichter des weißen Mobs in Little Rock, AK, wo die Schulintegration einer kleinen Gruppe von schwarzen Kindern mit staatlichem Druck durchgeführt werden sollte, die Fernsehbilder dominierten.

Aber: weit gefehlt. Bill Bryson meint es ernst, er schaut auf die 50er Jahre mit viel Wohlwollen zurück, mit Nostalgie sogar, denn: das waren seine - glücklichen - Kinderjahre. Bryson, 1951 geboren, wächst in Des Moines, der Hauptstadt von Iowa auf, eine tiefere Provinz konnte man sich damals, kann man sich auch heute kaum vorstellen. Wenn Billy Wilder in seinem Film "A Foreign Affair" eine Provinz-Gans braucht, um sie dem Vamp, gespielt von Marlene Dietrich entgegenzustellen, dann lässt er sie aus Iowa kommen und mit dünner Stimme den Staats-Song anstimmen.

Jedoch Iowa ist mehr als nur Provinz, dieser Staat ist in gewissem Sinn der Mittelpunkt Amerikas, geographisch, ökonomisch, wenn es um Landwirtschaft geht, und ideologisch - das "heartland of America" spricht das aus, was die Mehrheit denkt.

Die 50er besaßen, nach Bryson, eine "gewisse liebenswerte Unschuld." Und dafür kann der Zeitreisende viele schöne, oder schrecklich-schöne Beispiele anführen: Im Sommer wurden im ganzen Mittleren Westen regelmäßig Insektizide versprüht, flächendeckend, vom Flugzeug aus. Niemand kümmerte sich um die Kinder, die einfach weiter im Freien spielten, die der Insektiziden-Wolke nachliefen und das Gift tief einatmeten. Eine seiner schönsten Fundsachen aus den Zeitschriftenarchiven der 50er zeigt einen honorigen Arzt im weißen Kittel mit einer Zigarette in der Hand. Die Unterschrift der Werbung:

"Über 100.000 Ärzte, Familienärzte, Chirurgen und Hals-Nase-Ohren Ärzte wurden im ganzen Land befragt, welche Zigarette sie bevorzugen. Das Resultat: Mehr Ärzte rauchen Camel Zigaretten als jede andere Marke."

War das nun unbedarfte Naivität oder freche Verdummung der Kunden? Brysons nachträgliches Erstaunen über die Welt der 50er fasst er in der Beschreibung des neuen Haarschnitts von Vater und Bruder, genannt "flat-top", so zusammen:

"Nie haben Menschen gleichzeitig so lächerlich und so glücklich ausgesehen."

Bryson stütz sich zuerst auf seine eigenen Erinnerungen, wenn er auch am Ende der Dekade, dem Zeitpunkt der Wahl Kennedys, gerade erst einmal 10 Jahre alt ist, und dann auf Familienerzählungen. Die sind - wie zu erwarten - teilweise deftig, teilweise komisch, manchmal auch ein wenig eklig.

Mutter und Vater arbeiten bei der Zeitung, der Vater ist der große Held des Sohnes. Vor allem wegen seines Metiers, er ist Sportreporter beim Des Moines Register, er kommentiert von überall in den USA die wichtigsten Baseball Spiele, Vorbild auch wegen seines eleganten und zupackenden Stils, das spürt der Sohn schon bald.

Die Eltern konnte man allerdings ansonsten aus der Sicht des Sohnes am Rande des Exzentrischen einordnen. Die Mutter kümmerte sich zwar um abgerissene Knöpfe, doch fast tödliche Unfälle ihres Jüngsten nahm sie gar nicht richtig wahr. Und der Vater war nicht nur Idol sondern auch Quelle ständiger Peinlichkeiten. So schlief er aus Prinzip "unten ohne" und konnte sich auch schon mal am Abend vergessen - wenn die älteren Geschwister Freunde zum Farbfernsehschauen einluden und der Vater mit nacktem Po in der Küche stand, war das für Des Moines, und wahrscheinlich nicht nur für Des Moines, ziemlich gewagt.

Sehr witzig auch die Beschreibung der hartnäckigen Versuche des jungen Bill während der jährlichen großen Messe, der Iowa State Fair, Zutritt zum Zelt der Stripperin zu erzwingen. Doch in jedem Jahr wird die Altersbegrenzung erneut um ein Jahr angehoben, so dass ihm das Glück des Schauens von nackter weiblicher Haut - zumindest in Iowa - nicht gewährt wurde. Die Unterwäscheseiten in Versandhauskatalogen waren nur dürftiger Ersatz für die Phantasien des wissbegierigen Teenagers, ein Wort, das vor kurzem erst geprägt worden war.

Den autobiographischen Geschichten jener Jahre wird die Wirklichkeit im Lande zur Seite gestellt. Jedoch da verliert sich Bryson zu oft in den Archivfunden. Die vielen Statistiken und Aufzählungen, von Essgewohnheiten, Filmvorlieben, neuen TV Serien, von Autos - Ende der 50er Jahre konnten die amerikanischen Kunden zwischen 350 Automodellen auswählen - ermüden mit der Dauer - und können auch das gesellschaftliche Umfeld des jungen Helden nur unzureichend erhellen. Babyboom und Wirtschaftsboom gingen jedenfalls Hand in Hand, Reichtum für alle (Amerikaner) war kein leeres Versprechen.

"Die fünf Prozent der Menschheit, die US-Bürger waren, waren reicher als die restlichen 95 Prozent zusammen."

Nicht erwähnt werden Minderheiten, keine Beachtung finden die "Beatniks" aus New York und San Francisco, und dass mit dem Rock 'n 'Roll ab Mitte der 50er Jahre eine Kulturrevolution losgetreten wurde, wird nur am Rande gestreift. Des Moines als Nabel Amerikas, das vergisst die vielen Randgebiete der amerikanischen Gesellschaft, in denen sich schon in Kürze, in den 60ern, prächtige, schillernde Blüten entfalten sollten.

Damit ist aber die Geschichte des Bill Bryson und die Geschichte seiner Heimatstadt noch nicht zu Ende. Die Stadt ist nicht mehr das, was sie einmal war: eine funktionierende Gemeinde. Der Autor, der heute vorwiegend in England lebt, konstatiert es bei seinen Besuchen mit Traurigkeit: Die grandiosen Filmpaläste in der Hauptstraße sind geschlossen, die Jugendlichen müssen sich mit schachtelgroßen Kinos in den zersiedelten Vororten begnügen, die großen Warenhäuser mit ihren gediegenen Restaurants wurden abgerissen, an ihre Stelle traten gesichtslose Einkaufsmalls mit riesigen Parkplätzen.

Und als Bryson in Archiven der früheren Heimatstadt für seine Veröffentlichung recherchierte, musste er erfahren, dass der Verlust total ist. Wegen des Silbers im Papier der Fotos wurde das gesamte Bildarchiv der beiden örtlichen Zeitungen recycelt. Seine melancholische Schlussfolgerung:

"Jetzt sind also nicht nur die meisten Orte verschwunden, sondern es gibt auch kein Zeugnis mehr von ihnen."

Da hilft auch kein optimistisches Denken inmitten der Beinahe-Katastrophe, wie in den 50ern, als die Welt mehrmals kurz vor einem Atomkrieg stand, die Menschen in Des Moines aber von neuen Eissorten schwärmten. Die Vergangenheit wurde entsorgt. Bleibt aufbewahrt wohl nur im Gedächtnis der Schriftsteller.

Rezensiert von Maximilian Preisler

Bill Bryson: "Mein Amerika. Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit"
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Goldmann Verlag, München 2007.
352 Seiten. Euro 19, 95