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1920 in Dublin
Nordirlands erster "Bloody Sunday"

1972 erschossen britische Soldaten im nordirischen Derry 13 Menschen. Diesem Ereignis widmete die Band U2 ihren späteren Welthit "Sunday Bloody Sunday". Doch dieser "irische Blutsonntag" hatte einen Vorgänger am 21. November 1920, als Sicherheitskräfte der britischen Besatzer in Dublin 14 Zivilisten erschossen.

Von Matthias Bertsch | 21.11.2020
    Eine Foto zeigt einen Mann in Uniform eine Flagge haltend auf leerem Rasen im mit Flutlicht beleuchteten Croke-Park-Stadion in Dublin.
    Schweigeminute im Croke-Park-Stadion, Dublin 2015 anlässlich des 95. Jahrestags des "Bloody Sunday" (Picture-alliance /Wire / Niail Carson )
    Dublin, im Herbst 1920. Seit fast zwei Jahren führt die IRA, die Irisch-Republikanische Armee, einen Guerillakrieg gegen die britische Krone, die Irland seit Jahrhunderten beherrscht, aber am Leben der Iren wenig interessiert ist. Die irische Kultur und Sprache werden als rückständig betrachtet. Der Kampf um die Unabhängigkeit wird mit großer Härte geführt. Die irischen Kämpfer greifen Polizeistationen und britische Sicherheitskräfte an, diese antworten mit brutaler Gegengewalt. In dieser Situation beschließt die IRA, zwölf hochrangige britische Agenten zu töten: Sie werden in den frühen Morgenstunden des 21. November 1920 in Dublin erschossen, erinnerst sich der irische Journalist Pádhraic Ó Dochartaigh:
    "Am wichtigsten war die Tatsache, dass durch die Ermordung der Geheimagenten die geheimdienstlichen Aktivitäten der Krone ganz empfindlich gestört wurden, und dass zum ersten Mal in der langen, langen Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen England und Irland die republikanischen Kräfte die nachrichtendienstliche Hoheit in der Hauptstadt der Kolonie plötzlich gewannen."
    Befehl, das Feuer auf die Menge zu eröffnen
    Und die britischen Sicherheitskräfte sannen auf Rache. Als symbolischer Ort wurde das Croke Park Stadion in Dublin ausgewählt. Dort fand am Nachmittag ein Hurling-Spiel statt; das traditionelle Ballspiel gilt in Irland bis heute als Nationalsport. Das Stadion wurde umstellt, an den Ausgängen wurden zwei gepanzerte Fahrzeuge postiert, und auf ein Leuchtsignal hin fielen kurz nach Beginn des Spieles erste Schüsse, so Pádhraic Ó Dochartaigh:
    "Und dann brach natürlich Panik aus. Und die Menschen stürmten zum einen Ausgang, aber da waren bereits die beiden gepanzerten Fahrzeuge in Stellung gegangen, und die Besatzungen bekamen plötzlich den Befehl, das Feuer zu eröffnen, und sie eröffneten auch das Feuer auf die in ihre Richtung stürmende Menge, und die wich dann zurück und versuchte, überall über die Umrandungen und über die Mauern, die um das Feld aufgestellt waren, zu entkommen."
    Auf dem Weg zum Bürgerkrieg
    14 Menschen wurden erschossen, 65 verwundet. Der "Blutsonntag", wie der Tag bald genannt wurde, zog zahllose weitere Anschläge und Vergeltungsmaßnahmen nach sich. Militärisch waren die Briten überlegen, aber ihre kaum zwischen Kämpfern und Zivilbevölkerung unterscheidenden Racheaktionen brachten Großbritannien international zunehmend in die Kritik. Und so kam es Ende 1921 zum Anglo-Irischen Vertrag zwischen der britischen Regierung und den irischen Republikanern: Der Süden und die Mitte der Insel wurden als Irischer Freistaat zu einem eigenständigen Herrschaftsgebiet innerhalb des British Empire, während der wohlhabende Norden, in dem viele englische und schottische Zuwanderer lebten, rein britisch blieb. Doch vielen Iren ging der Vertrag nicht weit genug, sagt Pádhraic Ó Dochartaigh:
    "Irland war immer noch letztendlich unter der Oberhoheit der Krone, sie mussten den König anerkennen, und sie mussten den oath of allegiance leisten, den Eid auf die Krone, und das war natürlich unverständlich und unvorstellbar für einen großen Teil der Bevölkerung, und daran entzündete sich dann die Auseinandersetzung, die zu dem Bürgerkrieg führte."
    Britische Soldaten umzingeln während der blutigen Auseinandersetzungen eine Gruppe von Demonstranten. Am 30. Januar 1972 wurden 13 katholische Demonstranten während einer friedlichen, jedoch verbotenen Kundgebung in der nordirischen Stadt Derry von britischen Fallschirmjägern erschossen.
    Nordirland und der Brexit - Der Aufstand von Derry und seine Folgen
    1969 eskaliert der Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken in Nordirland – über 30 Jahre lang kam es immer wieder zu Anschlägen, fast 3.000 Menschen starben. Ende der 1990er-Jahre wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Mit dem anstehenden Brexit haben viele Angst vor einem Aufreißen alter Wunden.
    Der Bürgerkrieg endete im Mai 1923 mit der Niederlage der Vertragsgegner. Vollständig unabhängig von der Krone wurde Irland erst 1949, durch die Ausrufung der Republik und den Austritt aus dem Commonwealth. Aber die Unterdrückung durch Großbritannien ist in Irland sehr präsent. So erinnerte der irische Präsident Michael Higgins vor Kurzem in einer Rede an die Vergeltungsmaßnahmen der Briten während des Unabhängigkeitskrieges. Hinter ihnen stehe ein tief verwurzeltes Gefühl von Überlegenheit, das sich zum Beispiel in den Schriften des Philosophen David Hume zeige, der die Iren als Barbaren bezeichnete. Eine Versöhnung setze die Benennung von Unrecht voraus. Doch genau daran hapere es in Großbritannien, sagt Ó Dochartaigh.
    "Es ist so lange so erfolgreich totgeschwiegen worden, dass es eigentlich nicht mehr existiert. Vielleicht ist es gar nicht geschehen. Das ist einfach die Macht des Vergessens, genau das Gegenteil von Erinnerungskultur und Gedächtniskultur. Man muss sich nicht entschuldigen für das, was nach unserer Erinnerung gar nicht geschehen ist. Das ist das Endstadium des Erfolges der Verdrängung."
    Ein Polizeibeamter steht am 15. Mai 2011 vor dem historischen Besuch der britischen Königin Elizabeth II. im Zentrum von Dublin, Irland, in der Nähe einer Mauer mit Graffiti mit der Aufschrift "No Queen" Der viertägige Besuch wurde am 17. Mai inmitten einer massiven Sicherheitsoperation beginnen. Eine  zuvor  durchgeführte Umfrage ergab, dass 77 Prozent der Iren den Besuch der Königin und von Prinz Philip begrüßen.
    Protest im Zentrum von Dublin vor dem historischen Besuch der britischen Königin Elizabeth II. am 17. Mai 2011 (picture alliance /EPA / Enda Doran)
    Eine Entschuldigung hat es bis heute nicht gegeben, nur zaghafte Schritte, sich den dunklen Flecken der Geschichte zu stellen: Als die Queen vor neun Jahren zu ihrem ersten Staatsbesuch seit der Unabhängigkeit des Landes in Irland war, stand auch das Croke-Park-Stadion auf dem Programm – in Erinnerung an den Blutsonntag von 1920.