Norbert Lammert diskutiert in Weimar

Am Ende stehen zehn Thesen zur Leitkultur

Bundestagspräsident Norbert Lammert
Bundestagspräsident Norbert Lammert © picture alliance/dpa/Bernd Von Jutrczenka
Von Henry Bernhard · 05.06.2016
Brauchen wir eine Leitkultur? Die von Rechtspopulisten neu entfachte Debatte müsse offensiv geführt werden, fordert Bundestagspräsident Norbert Lammert in einer Diskussionsrunde zum Thema. Wichtig ist ihm die Feststellung: Eine spezifisch deutsche Leitkultur gibt es nicht.
Der CDU-Politiker Norbert Lammert hatte die vor 15 Jahren schnell, aber heftig beendete Debatte um die Leitkultur noch einmal zu einem kurzen Leben erweckt, als er 2005 zum Bundestagspräsidenten gewählt wurde.
Nun ist der Begriff wieder da, und, anders als vor zehn oder 15 Jahren, als er akademisch und parteipolitisch diskutiert wurde, auf den Marktplätzen des Landes, etwa, wenn der Thüringer AfD-Chef Höcke seine deutschnationalen Parolen zur deutschen Leitkultur erklären möchte. Grund für den Präsidenten der Klassik Stiftung Weimar, Hellmut Seemann, Bundestagspräsident Norbert Lammert zum öffentlichen Nachdenken über den Begriff Leitkultur in die Anna Amalia Bibliothek einzuladen. Seemann:
"Darüber wird zur Zeit auf zum Teil sehr krude, zum Teil auf sehr verdeckte Weise in allen politischen Lagern diskutiert. Und deswegen fand ich das interessant, den, der das ganz stark mal vorgebracht hat, nämlich Lammert, zu fragen, ob er nicht Lust hätte, in einem Ort wie Weimar, wo man ja bei dem Gedanken Leitkultur sowohl positiv wie negativ so einiges sagen könnte, über dieses Thema nochmal zu reden."

Lammert erfreut über die Wiederaufnahme

Lammert kam also und zeigte sich erfreut, die Debatte um die Leitkultur noch einmal anzufachen. Schon im Vorfeld stellte er klar, dass es ihm am wenigsten um den Begriff selbst gehe, viel mehr aber um den Bedeutungskern, den der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde schon Mitte der 60er Jahre herausgeschält hatte, weit vor der Herausforderung durch die Zuwanderung:
"Seine längst klassische gewordene Frage, ob der moderne demokratische Verfassungsstaat auf normativen Voraussetzungen beruhe, die er selber weder schaffen noch garantieren könne, ist seit ihrer ersten prägnanten Formulierung häufig gestellt und regelmäßig mit der Einsicht beantwortet worden, dass der säkularisierte Staat seine normativen Grundlagen nicht aus eigenen Ressourcen schöpfen könne, sondern dabei auf weltanschauliche, religiöse, jedenfalls kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen angewiesen sei."
Auf zwei fundamentalen Säulen beruhe die Kultur des Westens: Auf der Kultur des christlichen Glaubens und auf der säkularen Rationalität, der Vernunft. Beide, einander scheinbar widersprechende Konzepte, machten unsere Kultur aus:
"Ihre Verbindung, ihre wechselseitige Begründung, ihre Widersprüche und die ständige Relativierung des Einen durch das Andere – des Glaubens durch die Vernunft, der Vernunft durch den Glauben – gibt es in keiner anderen Kultur. Was deswegen diese Kultur nicht besser macht als andere, aber jedenfalls anders macht."

Lammert: Debatte offensiv führen

Wichtig dabei, dass seit der Aufklärung jeder Behauptung auch der Zweifel an ihr inne wohne. Lammert hob hervor, dass es nicht um verschiedene Wertigkeiten von Kulturen geht, sondern um die Unvereinbarkeit von manchen Grundsätzen, auf die wir uns gerade in Zeiten starker Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen verständigen müßten.
"Es ist offenkundig nicht zu übersehen, dass es Orientierungen, Normen, Traditionen, Verhaltensmuster gibt, die jede für sich kulturell erklärbar und begründet sind, die aber in ein und derselben Gesellschaft nicht gleichzeitig Geltung haben können. Der Anspruch z.B. auf Vorrang des Mannes gegenüber der Frau ist mit dem Anspruch der Gleichberechtigung der Frau offensichtlich in ein und derselben Gesellschaft nicht zu vereinbaren. Der Anspruch auf Freiheit von Glaubensausübung – einschließlich der Freiheit, den Glauben zu wechseln oder aufzugeben – ist mit der gegenteiligen kulturell gewachsenen und begründeten Auffassung, der Abfall vom Glauben sei ein strafwürdiges Verbrechen, ganz offenkundig unvereinbar."
Eben deshalb müssten wir die Debatte nun offensiv führen. Gar nicht nur mit Blick auf die Zuwanderung, sondern auch, um uns unser selbst zu vergewissern. Ob das Ganze dann Leitkultur hieße, ist dem Bundestagspräsidenten egal. Eine spezifisch deutsche Leitkultur gäbe es ohnehin nicht.

"Nur ein einziger Aspekt ist deutsch: die Sprache"

"Und da es sie nicht gibt, brauchen wir sie auch gewiß nicht! Denn von all dem, was für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft und sein Regelsystem konstitutiv ist, ist überhaupt nur ein einziger Aspekt deutsch: die Sprache. Alles andere ist westlich, abendländisch, europäisch."
Am Ende wagte Lammert es gar, seine Ausführungen in zehn Thesen zusammenzufassen. Vielleicht der Anfang einer neuen, unaufgeregten und strukturierten Debatte. Hellmut Seemann dachte schließlich laut darüber danach, auch noch andere Redner zum Thema nach Weimar einzuladen.
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