Noch mehr Nichts als Nichts

Gesehen von Hans-Ulrich Pönack · 30.03.2011
Er wurde für vier Oscars nominiert und erhielt beim renommierten "Sundance Filmfestival" Preise für den besten Film und die beste Regie. "Winter's Bone" zeichnet ein Horror-Szenario aus dem vergessenen Hinterland der USA, von wo aus kein Entrinnen möglich scheint.
Allein diese Gesichter, diese unvorstellbar traurigen Gesichter, in denen sich abspielt, in denen alles zu sehen, zu deuten, zu spüren, zu empfinden ist, was an "geschändeter Seele" überhaupt auszudrücken geht. Mit einigem Rest-Stolz und einer unbändigen Dauer-Wut. Wut darüber, dass hier das Leben, das Überleben, mehr ein Muss als ein Wollen bedeutet und dass die menschliche Existenz ein einziger, ewiger böser Kampf und Krampf ist. Kein Entrinnen ist möglich, Entspannung ist anderswo.

Wir befinden uns in den reichen Vereinigten Staaten von Amerika. Abseits des "Mainstreams". Im vergessenen Hinterland der USA. In den Ozark Mountains in Missouri. Einer, wie sagt man so dahingesagt, längst von Gott verlassenen Gegend. Wo eigene (Überlebens-)Regeln herrschen und die Betäubung auf dem täglichen Speiseplan wie auch als Verkaufsangebot steht. Zum Beispiel mit "Crystal Meth", einer selbst hergestellten Droge, die für das regionale Einkommen, aber auch dafür sorgt, dass individueller Hunger und individuelle Müdigkeit weggespült werden für Euphorie und Ich-Glauben - auf dieser kaputten, ekligen, unwürdigen amerikanischen Müllhalde.

Die 17-jährige Ree Dolly (Jennifer Lawrence) bemüht sich, dennoch "durchzukommen". Die Mutter hat längst krank aufgegeben, ist apathisch in sich versunken und nie wieder herausgekommen. Also muss Ree täglich ran, um sich und ihre beiden kleinen Geschwister irgendwie durchzubringen. Eine Jugendzeit gibt es für Ree nicht, stattdessen muss sie ab sofort noch mehr leisten - denn ihr Dad ist verschwunden. Was nicht so schlimm wäre, denn er ist offensichtlich ein familienresistenter Typ von Drogenhändler, wie man so hört, aber er hat ein übles "Vermächtnis" hinterlassen: Er hat dem Gericht das Dreckshaus als Kaution gegeben und ist danach verschwunden. Sollte er nicht bald wieder dort erscheinen, wären Haus und Grundstück weg. Ree & Co. müssten dann zusehen, wo sie bleiben. Noch mehr Nichts als Nichts.

Also macht sich die junge Frau auf den mühseligen Weg, den Erzeuger zu suchen - misstrauisch von der Nachbarschaft beäugt wegen der Unruhe und der unnötigen Aufmerksamkeit für diese Gegend, in der es streng nach Familienkodex, "mit Schweigegelübde", geht - weil irgendwie jeder mit jedem, mehr oder weniger, "verwandt" zu sein scheint. Und "Mann" befiehlt, was "Frau" zu tun und zu lassen hat. Aber Ree lässt nicht locker, stellt unangenehme Fragen, verlangt Antworten - was für sie schmerzhafte Folgen hat.

Die literarische Vorlage für diesen unabhängig produzierten, vierfach "Oscar"-nominierten Low-Budget-Thriller bildet der gleichnamige, 2006 erschienene Roman von Daniel Woodrell, der soeben auch bei uns, unter dem Titel "Winters Knochen", veröffentlicht wurde. Roman wie Film erinnern an die amerikanische Sozialfotografie der 30er Depressionsjahre. Wo Bilder Armut nicht bloßstellten, sondern dokumentierten. Ähnlich hier: Der Film "Winter´s Bone" verfolgt nicht voyeuristisch die düstere Szenerie, sondern beschreibt, erzählt vehement wie nahegehend von schlimmen Lebensumständen. Bleibt dabei würdevoll an den Beteiligten, denunziert sie nie, sondern macht ihre verschiedenen Positionen nuancenreich deutlich, also deutbar. Soziale amerikanische Realität inmitten eines ergreifenden Spannungsfilms mit überzeugenden Akteuren.

Vor allem die aus Louiseville, Kentucky stammende 20jährige Jennifer Lawrence als unbeugsame private "Schnüfflerin" Ree. Wie (die bislang unbekannte) Jennifer Lawrence in diese Jung-Erwachsene Ree unverkrampft-aufrecht hineinkriecht, ist ebenso beeindruckend wie erschütternd. Eine "Dschungel"-Frau, die lange im Gedächtnis bleibt.

"Winter's Bone", USA 2009, Regie und Adaption des Drehbuchs: Debra Granik, Darsteller: Jennifer Lawrence, John Hawkes, Kevin Breznahan, Dale Dickey, Garret Dillahunt u. a., 100 Minuten, ab 12 Jahren

Filmhomepage