Noch immer zerrissen

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 31.05.2013
Er erschoss sich während des Militärputsches 1973 in Chile: Der damalige Präsident Salvador Allende. Viele Regimegegner flüchteten ins Exil, auch seine Tochter musste das Land verlassen. Darüber und über die aktuelle Situation in Chile berichtete seine Tochter Isabel Allende in Berlin.
Isabel Allende: "Ein Mensch muss optimistisch sein. Mit reinem Pessimismus kommt man nirgendwo hin. Wir müssen für das Gute arbeiten und an das glauben, an was wir glauben."

Isabel Allende ist die dritte Tochter des ehemaligen chilenischen Präsidenten und Senatorin im chilenischen Parlament. Auf Einladung der Friedrich Ebert Stiftung erzählte die 68-Jährige gestern Abend in Berlin von ihrem Vater, von den Sabotageakten und den verdeckten Operationen der USA gegen seine sozialistische Regierung, vom Putsch der Militärs, vom Exil und dem mühsamen und gefährlichen Weg in die Demokratie. Eine Zeitreise mit sehr emotionalen Momenten, etwa als Isabel Allende die letzte Begegnung mit ihrem Vater in dem schon von Militärs abgeschnittenen Präsidentenpalast schilderte:

"Er selbst begleitete uns bis zur Türe, die Treppen hoch. Wir wechselten nur wenige Worte, wir umarmten uns. In diesem Moment hätte ich niemals daran gedacht, dass ich ihn zum letzten Mal sehe. Ich habe ihn einfach nur umarmt."

Wenige Stunden später nahm sich Salvador Allende während der Angriffe der Militärs auf den Präsidentenpalast das Leben. Isabel Allende gelang die Flucht ins mexikanische Exil. Weltweit hatte der Putsch der Generäle, der Tod des demokratischen Präsidenten und hatten die brutalen Menschenrechtsverletzungen der Militärdiktatur Empörung ausgelöst.

"Es entstand ein weltweites Netzwerk der Solidarität, das einfach beeindruckend war. Ich glaube, kein Volk hat jemals so eine große internationale Solidarität erfahren. Man kann sich nur bei all den Ländern bedanken, die ihre Türen für die Chilenen öffneten, damit sie auch weiterhin ein menschenwürdiges Leben führen konnten."

1989, nach 16 Jahren Exil konnte Isabel Allende - wie viele ihrer Landsleute - nach Chile zurück. General Pinochet hatte auf internationalen Druck ein Referendum durchgeführt und war überraschend gescheitert. Aber auch wenn bei den anschließenden Wahlen eine Allianz aus Sozialdemokraten, Sozialisten und Christdemokraten siegte, war die Demokratie bedroht. Denn General Pinochet behielt als Oberbefehlshaber der Streitkräfte und als Senator auf Lebenszeit einen großen Teil der Macht für sich. Die Angst vor einem neuen Staatsstreich blieb, bis der Ex-Diktator 1998 bei einer Reise nach London auf einen Haftbefehl des spanischen Richters Baltasar Garzón hin wegen Völkermordes und Menschenrechtsverletzung verhaftet wurde. Zwar wurde er aus gesundheitlichen Gründen nach 503 Tagen wieder entlassen, aber seine Macht war gebrochen.

"Es waren die glücklichsten 500 Tage die ich seit Langem erlebte. Wir waren begeistert, dass er gerade in London verhaftet wurde, wo er sich als Freund Margaret Thatchers so sicher gefühlt hatte. Wir waren aber auch begeistert, weil sich durch seine Verhaftung auch das politische Klima in Chile änderte. Plötzlich durfte man Morde, Morde nennen. Vorher sprach man immer von "Exzessen". Vorher sprach man auch immer verharmlosend von einer "Militärerhebung" um nicht "Staatsstreich" zu sagen."

Heute, fast 40 Jahre nach den Staatsstreich, ist Chile immer noch ein zerrissenes Land. Die Vergangenheitsbewältigung, besonders die juristische Aufarbeitung der brutalen Repression, läuft langsam. 20 Jahre regierte das Bündnis gegen Pinochet aus Christdemokraten, Sozialisten und Sozialdemokraten. 2009 bei den letzten Präsidentschaftswahlen, setzte sich mit Sebastian Piñera wieder die chilenische Rechte durch. Aber heftige Proteste und Demonstrationen gegen die Bildungsmisere und die soziale Ungleichheit sind in Chile an der Tagesordnung:

"Wir haben zwanzig Jahre lang regiert und unser wichtigstes Ziel, die Rückkehr zur Demokratie, auch erreicht. Wir haben viele Strukturen der Diktatur abgebaut, haben aber immer noch die Verfassung, die Pinochet 1980 eingeführt hat. Wir haben nach wie vor eine extreme Armut, sind ein Land der extremen sozialen Unterschiede, der Ungerechtigkeiten und der Ausbeutung. Das haben wir in unseren 20 Jahren Regierungszeit nicht ändern können. Wir haben extrem niedrige Renten und ein Bildungssystem, dass die Mehrzahl der jungen Leute ausschließt, weil es, gemessen am Pro Kopf Einkommen, das Teuerste der Welt ist. Die jungen Menschen, die auf der Straße demonstrieren fordern ein besseres und kostenfreies Bildungssystem. Sie haben Recht damit, wir haben das noch nicht durchsetzen können."

Zwei Stunden lang fesselte Isabel Allende die Zuschauer durch ihre spannende Schilderung der Zeitgeschichte der letzten vierzig Jahre. Eine Zeitzeugin im Ruhestand ist sie allerdings nicht: Nach den Präsidentschaftswahlen im Herbst hofft sie auf einen Sieg ihrer Mitte-Links-Koalition und auf eine Fortführung des chilenischen Reformprozesses.