Noam Chomsky: "Requiem für den amerikanischen Traum"

Die Amerikaner haben ausgeträumt

Cover von "Requiem für den amerikanischen Traum", dahinter ein zerrissener US-Dollar und eine Flagge.
Cover von "Requiem für den amerikanischen Traum", dahinter ein zerrissener US-Dollar und eine Flagge. © Kunstmann Verlag / dpa / Arno Burgi
Von Martin Tschechne · 23.09.2017
Es ist das Buch zum gleichnamigen Film: "Requiem für den amerikanischen Traum". Der US-Sprachwissenschaftler und Kapitalismuskritiker Noam Chomsky formuliert seine Thesen knapp und pointiert - auch im Buch. Die Argumentation ist klar gegliedert und zu prägnanten Statements zusammengefasst.
Ausgeträumt! So das Fazit des US-Sprachwissenschaftlers und Kapitalismuskritikers Noam Chomsky über die Mär des "American Dream". Er attestiert den USA eine Politik der systematischen Entmündigung und Enteignung, die es versteht, den Eliten ihre Privilegien auszubauen. Und dafür nicht weniger, als bereit ist, das Wohlergehen der Welt zu opfern.
Jeder Film aus der Traumfabrik von Hollywood erzählt dieselbe Geschichte; jeder Angestellte in seinem Großraumbüro ist darin gefangen wie in einer Endlosschleife: Du kannst es schaffen. Wer sich anstrengt, der wird es zu etwas bringen. Zu einem Haus, einem Auto, einer soliden Ausbildung für die Kinder, einem guten und sinnvollen Leben.

Verkommen zu einem leeren Mythos

Es ist das Mantra des amerikanischen Traums. Aber, so Noam Chomsky: Dieser Traum hat sich ausgeträumt. Er ist verkommen zu einem leeren Mythos. Und schlimmer noch: Er hat sich korrumpieren lassen zu einer Formel, mit der eine immer kleinere, immer mächtigere und reichere Elite ihre Privilegien ausbaut und sichert und weiter ausbaut und die Welt dabei sehenden Auges vor die Wand fährt. Auf Risiko und auf Kosten derer, die immer noch in der Illusionsschleife ihre Bahnen ziehen und sich weigern, eine Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen, die sich vielleicht leise, aber Dank schneller Entschlossenheit in wenigen Jahren und Jahrzehnten in das Gegenteil dessen verkehrt hat, was der Traum von Freiheit und Demokratie einst versprochen hat.
So gesehen, ist der weit über die Grenzen seines Faches hinaus bekannte Sprachwissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology ein echter Aufklärer. 88 Jahre alt – vielleicht der letzte seiner Art.
"What’s happened is: We’ve created two huge threats to survival. We have systematically – not you and me, but the leadership has systematically created socioeconomic policies which have as a consequence, almost immediate consequence the undermining of functioning democracy as the one one thing that might deal with the disasters. Like I said: It’s kind of perfect storm. Real credit to the human species to have contrived something like this!"
Was bisher geschah, so fasst Chomsky den Stand der Dinge wie in einem Drehbuch zusammen, ist dies: Wir haben durch unser rücksichtloses Streben nach Macht zwei fundamentale Bedrohungen aufkommen lassen und dafür die Demokratie geopfert. Und dann, in bitterem Spott: was für eine großartige Leistung des menschliches Verstandes!
Die Mechanik dieses Zusammenspiels, die Logik von hemmungslosem Machtstreben auf der einen und immer schnellerem, immer radikalerem Machtverlust auf der anderen Seite, die genau daraus erwachsende Zweifach-Bedrohung durch Klimakatastrophe und nukleare Katastrophe – siehe die Hurricanes, die vor dem Golf von Mexiko Schlange stehen, siehe der kaum noch steuerbar eskalierende Konflikt mit Nordkorea: Sie sind Gegenstand eines Films, in dem Noam Chomsky die Geschichte eines inzwischen rettungslos überhitzten Turbo-Kapitalismus zusammenfasst, die Interpunktion von Ursachen und Wirkungen mit dem Seziermesser des Linguisten analysiert und schließlich in kühler, illusionsloser Konsequenz feststellt, dass der einzige und letzte Ausweg aus einem Szenario der Katastrophen versperrt ist.

Schleichende Abschaffung der Demokratie

Versperrt, weil genau er auch den Einstieg in diesen Teufelskreis aus Macht der Wenigen und Entmachtung der Vielen erst möglich gemacht hat. Es ist: die schleichende Abschaffung der Demokratie.
"You cannot carry out the kinds of policies that have been developed in the last generation and have the population function democratically."
Es ist nicht möglich, sagt er also, die Umwelt erkennbar über jede Grenze hinaus zu belasten, Kriege und Konflikte in aller Welt im Interesse einer kleinen, globalen Elite zu schüren, ohne sich über die Rechte der Allgemeinheit hinwegzusetzen. Manchmal kann sich eben auch der nüchternste Wissenschaftler vor den Fakten nicht anders schützen als durch knappen Sarkasmus.
Das Buch "Requiem für den amerikanischen Traum" ist das Buch zum Film gleichen Namens, der 2015 auf Netflix zu sehen war. Es hat dem Film gegenüber den Vorteil, der Gegenwart noch ein Stück näher zu sein – was in Zeiten eines Präsidenten Donald Trump der Argumentation wertvolle neue Aspekte hinzufügt, Anschauungsmaterial liefert für die dort formulierten Thesen, manchmal auch nur noch weitere Bestätigung dessen, was Chomsky seit den Zeiten der Studentenbewegung von 1968 immer wieder festgestellt und in seinen Streitschriften angeprangert hat. Etwa, was die Qualität demokratischer Wahlen betrifft:
"US elections are pretty much bought. You can predict with remarkable precision electoral outcomes by looking at simple measures like campaign funding. There is very serious work on this."
Die Wahlen seien gekauft, stellt er fest. Und es lasse sich immer wieder eine sehr direkte Beziehung zwischen der finanziellen Förderung eines Kandidaten und seinem anschließenden Wahlerfolg konstatieren. Was daraus folgt, ganz selbstverständlich, ist die Dankbarkeit des Gewählten gegenüber seinen Förderern – wer weniger sentimental veranlagt ist, beispielsweise Noam Chomsky, der spricht eben von Abhängigkeit.

"Den Pöbel im Zaum halten"

Im Film formuliert Chomsky seine Thesen so knapp und pointiert, wie es für das Medium geboten ist. Im Buch bleibt er dabei: Die Argumentation ist klar gegliedert und zu prägnanten Statements zusammengefasst, unterbrochen durch Quellentexte von Aristoteles über Adam Smith und Henry Ford bis zu Malcolm X und Martin Luther King, dem früheren US-Notenbankchef Alan Greenspan und der Rating-Agentur Standard & Poor’s – mit anderen Worten: ein Buch zum Mitnehmen und Dabeihaben, wenn eine Debatte durch Argumente unterfüttert werden soll.
Der Ton dabei ist immer wieder pointiert – das ist Chomskys Form von Humor im Angesicht politischen Niedergangs und drohender Zweifach-Katastrophe – bisweilen durchsetzt von bitterer Ironie. So auch, wenn er die zehn Prinzipien zur Konzentration von Macht formuliert, als handele es sich um eine Bastelanleitung für angehende Sonnenkönige und Autokraten, von "Demokratie einschränken" – Prinzip Nummer eins – über "Andere die Last tragen lassen", "Wahlen manipulieren", "Den Pöbel im Zaum halten" bis zu "Die Bevölkerung an den Rand drängen". Denn anders, so führt er aus, ließe sich eine Politik der systematischen Entmündigung und Enteignung nicht durchsetzen: Zerschlage jede Einheit und hetze die Leute gegeneinander auf, Einwanderer, Arme, Andersgläubige …
"You can’t get people to vote for things like this. So what you have to do is marginalize them in one way or another. Turn them against each other, turn their anger against vulnerable people… immigrants, the poor, you know, muslims, blacks, anybody."
Ist das polemisch? Chomsky sieht sich dazu gezwungen. Ist es populistisch? Ja, ein bisschen – aber weitaus weniger schamlos, als es auf der anderen Seite geschieht. Und wie zu befürchten ist: auch weniger folgenschwer.
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