Nine-Eleven-Comics erstmals auf Deutsch

07.10.2011
Art Spiegelman und seine Frau machten am 11. September 2001 eine Spaziergang, als das erste Flugzeug ins World Trade Center einschlug. Der Künstler hat seine Erinnerungen und Assoziationen zu den Ereignissen in Comic-Zeichnungen festgehalten.
"Meine Muse heißt Desaster." Das schreibt Art Spiegelmann in einer Vorbemerkung zu "Im Schatten keiner Türme". Vor 25 Jahren ist dieser Comicautor weltberühmt geworden mit seinem "Maus"-Comic, in dem er die Geschichte seiner Eltern erzählt, der Auschwitz-Überlebenden Wladek und Anja Spiegelman. In seinem Buch über den elften September kommen von neuem Spiegelmans eigenes Leben und die Desaster der Weltgeschichte unmittelbar zusammen.

Die Wohnung und das Studio von Art Spiegelman liegen in Lower Manhattan, ganz in der Nähe von Ground Zero. Spiegelman und seine Frau waren dort unterwegs, als am 11. September 2001 das erste Flugzeug ins World Trade Center einschlug. Sie sind danach durch die Straßen von Manhattan gehetzt, um ihre beiden Kinder aus den Schulen zu holen. Spiegelmans Tochter Nadja sah von ihrer High School aus Menschen aus den Fenstern der Zwillingstürme springen.

Art Spiegelmann hat in den Jahren 2002 und 2003 eine Serie von zehn großformatigen Tafeln gezeichnet, auf denen er seine Erinnerungen und Assoziationen zu den Ereignissen des 11. September festgehalten hat. Er wollte diese Arbeiten in den Zeitungen veröffentlichen, mit denen er jahrzehntelang zusammengearbeitet hatte, in der New York Times und der New York Review of Books. Die haben abgelehnt, weil ihnen Spiegelmanns Zeichnungen zu amerikakritisch waren.

Seine Nine-Eleven-Comics sind deshalb zuerst im Ausland erschienen, in England, Frankreich, den Niederlanden, in Deutschland in der Wochenzeitung "Die Zeit". In den USA hatte nur die wenig bekannte linke Wochenzeitung "Forward" den Mut, Spiegelmans Comics zu drucken. Im Jahr 2004 dann ist die Serie in den USA als Buch erschienen, nun gibt es sie zum ersten Mal in Buchform auf Deutsch.

Die zehn Bildtafeln haben enorme Ausmaße, etwa 50 mal 37 Zentimeter. In einer anfangs schwer zu erfassenden Dramaturgie zeigen sie Bruchstücke, Anfänge von Geschichten, Alpträume, Karikaturen. Panels in verschiedenen Formen, Rahmungen, Dimensionen stürzen übereinander. Man sieht den Zeichner und seine Frau durch die Straßen irren, man sieht einen mausköpfigen Cartoonisten, der von Osama bin Laden und George W. Bush gleichzeitig bedroht wird. Zwei Kinder rennen panisch umher, auf ihren Köpfen tragen sie brennende Türme.

Tragische Szenen, bitterer Hohn, absurder Klamauk sind in diesen chaotischen Katastrophenbildern zusammengefügt, Innen- und Außenpolitik, Spiegelmans Paranoia und reale Gefahren wirbeln durcheinander. Eine geschlossene Geschichte entsteht nicht aus den Fragmenten - kein Wunder angesichts dieser bis heute andauernden Katastrophe.

Die Arbeit an diesen Bilderfolgen hat Art Spiegelmann nach einer langen Pause wieder zum Comicautor gemacht, auch deshalb endet dieses Buch mit einer tiefen Verneigung vor der Comic-Geschichte. Zuletzt wandert man durch sieben Tafeln mit den Katzenjammer Kids, dem Yellow Kid und den anderen Helden der frühen Sonntagscomics. Sie sind vor über hundert Jahren dort entstanden, wo am 11. September die Türme einstürzten, im alten Zeitungsviertel von New York.

Besprochen von Frank Meyer

Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme
Aus dem Englischen von Christine Brinck und Jürgen von Rutenberg, Atrium Verlag, Hamburg 2011
42 Seiten, 34,90 Euro