Niedergang der Volksparteien

Die Lösung lautet "direkte Demokratie"

"Ohne Volksabstimmung ist alles Banane" - Eine Aktion des Künstlers Thomas Baumgärtel
"Ohne Voksabstimmung ist alles Banane" meint auch der Künstler Thomas Baumgärtel © imago stock&people
Von Andreas Urs Sommer · 21.10.2018
Der Niedergang der Volksparteien scheint nicht mehr aufzuhalten. Kein Wunder, kommentiert der Philosoph Andreas Urs Sommer, denn die Idee der politischen Repräsentation sei hoffnungslos veraltet.
Eine Woche nach der Landtagswahl in Bayern hält mindestens ein lagerübergreifendes Lamento an: Die Analysten in Politik und Medien sehen die Volksparteien unaufhaltsam ihrem Ende entgegenwanken und prophezeien unserer Demokratie eine gefährliche Destabilisierung. Mehr noch: Am Schicksal der Volksparteien – sind sie sich einig – hänge das Schicksal der Demokratie.
Nun gründen politische Parteien auf der Idee der Repräsentation. Nach dieser Idee haben die Bürger eine beschränkte Anzahl von Interessen; und die Parteien sind dazu da, den vier oder fünf Hauptinteressensschwerpunkten in der Bevölkerung politische Durchsetzungskraft zu verleihen. Einst schien sich der Bürger darauf verlassen zu können, dass "seine" Partei auch seine Interessen wahrnimmt, und daher hat er sie mit schöner Regelmäßigkeit gewählt.

Die Idee der Repräsentation ist unzeitgemäß

Heute wird also darüber gerätselt, warum das nicht mehr so ist. Eigentlich ist die Antwort ganz einfach, wenngleich unpopulär: Weil die Idee der Repräsentation eine vormoderne Idee ist. Sie ist angemessen gewesen in einer Welt, in der die Interessenlagen der einzelnen Bevölkerungsgruppen noch klar und eindeutig waren: Da gab es die Bauern, die von drückenden Abgaben befreit werden wollten, da gab es das Bürgertum, das seine wirtschaftliche Macht gerne um politische Macht erweitern wollte, da gab es den Adel und den Klerus, die ihre Privilegien behalten wollten. Die Idee der Repräsentation ist mit anderen Worten die Idee aus einer ständisch organisierten Welt, in der es nur eine sehr beschränkte Vielfalt von Interessen gab.

Mehr Parteien sind auch nicht die Lösung

Die heutigen Parteiendemokratien haben die starre ständische Repräsentation zwar aufgebrochen – jede und jeder darf bei der nächsten Wahl eine andere Partei wählen, weil sich die eigene Interessenlage verändert hat. Aber die Idee der Repräsentation hält nicht wirklich Schritt mit dem, was die voranschreitende Modernisierung wesentlich und positiv ausmacht, nämlich Individualisierung. Individualisierung wiederum bedeutet nicht zuletzt eine Vervielfältigung der Interessen und Perspektiven. Es ist also, weil jedes Individuum seine ganz eigenen Interessen hat, völlig normal, dass es sich nicht mehr allein von einer Partei repräsentiert fühlt.
Eine Lösung, scheint in der Aufsplitterung des Parteiensystems zu bestehen. Hat man mehr Parteien, erhöht sich schlicht arithmetisch die Wahrscheinlichkeit, dass da auch eine darunter ist, die die individuellen Präferenzen und Interessen einigermaßen abspiegelt. Aber diese Lösung ist nur eine scheinbare. Am Ende bräuchte jede und jeder eine eigene Partei.

Demokratie muss heute direkt sein

Die eigentliche Lösung ist der Abschied von der einseitigen Parteienorientierung in unserem Demokratieverständnis und stattdessen die Hinwendung zur direkten Partizipation. Wenn man die Bürgerin und den Bürger als mündige Wesen ernst nimmt, gibt es keinen Grund, ihre direkte Beteiligung an allen relevanten politischen Sachentscheidungen zu fürchten. Was spricht denn dagegen, ihnen genau gleich viel gesunden Menschenverstand zuzutrauen wie den Berufspolitikern, die von den zahllosen Dingen, über die sie in den Parlamenten befinden, fachlich meist nicht viel mehr Ahnung haben als die Bürger auch? Direkte Demokratie, wo über jede politische Frage vom Abriss der Dorfturnhalle bis zur Beschaffung neuer Kampfjets abgestimmt werden kann, funktioniert allerdings nur, wenn man sich in ihr einübt, das heißt, sie in größter Regelmäßigkeit praktiziert – statt alle 20 Jahre mal über BREXIT oder Stuttgart 21 zu votieren.
Die angebliche Krise der Demokratie ist nichts weiter als eine Krise der vormodernen Idee der Repräsentation. Für diese Krise gibt es eine einfache und elegante Lösung: nämlich die Verschweizerung der politischen Welt.

Andreas Urs Sommer, Professor für Philosophie mit Schwerpunkt Kulturphilosophie, Akademie-Professor in Kooperation mit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisches Seminar der Universität Freiburg. Der weltweit anerkannte Spezialist für Nietzsche ist seit 2014 Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer posiert in Köln auf der 6. phil.cologne, aufgenommen im Juni 2018
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