Nie abgeschlossene Kämpfe

07.10.2013
An Ernst Jünger scheiden sich die Geister. Vor allem sein Buch "In Stahlgewittern" hat das Urteil über Jahrzehnte bekräftigt, Jünger sei ein Konservativer, der unreflektiert den Krieg verherrlicht. Nun hat der Germanist Helmuth Kiesel eine kritische Ausgabe dieses Kriegstagebuchs erarbeitet.
Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" gehört zweifellos zu den grundlegenden Büchern des 20. Jahrhunderts, wenn man den Ersten Weltkrieg als dessen "Urkatastrophe" betrachtet. Unabhängig davon, wie man diesen Bericht "Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers" einschätzt - so der Untertitel der Erstausgabe aus dem Jahr 1920 -, ob als Kriegsverherrlichung oder bloß als dezidierte Beschreibung, die in ihrer Genauigkeit eher abschreckend wirkt (so las zum Beispiel Erich Maria Remarque die "Stahlgewitter"): Wer den Ersten Weltkrieg begreifen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei, dessen Titel geradezu sprichwörtlich geworden ist.

Die Uneinigkeit in der Bewertung hatte auch damit zu tun, dass es von 1920 bis zur großen Jünger-Werkausgabe aus dem Jahr 1978 mindestens sieben, erheblich differierende Fassungen gibt. Jünger pflegte an seinen Texten immer auch nach der Publikation weiterzuarbeiten, sie waren für ihn nie abgeschlossen. Bei den "Stahlgewittern" sind diese Änderungen jedoch extrem und keineswegs nur auf stilistischer Ebene.

War die Erstausgabe als literarisierte Version der in den Schützengräben geschriebenen Kriegstagebücher noch ein direkter, das Abenteuer und das Heldentum unterstreichender Erlebnisbericht, erhielt das Buch 1924, in Jüngers nationalrevolutionärer, rechtsextremer Phase, erhebliche nationalistische Töne, der aber in der 14. Auflage 1934 wieder verschwanden, weil er nicht mit den Nazis verwechselt werden wollte, für die er keinerlei Sympathien besaß.

Der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger mit dem Orden "Pour le merite" (1989)
Der deutsche Schriftsteller Ernst Jünger mit dem Orden "Pour le merite" (1989)© picture alliance / dpa / Rolf Haid
Ein neues, aufregendes Leseabenteuer
Der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel hat nun eine Ausgabe erstellt, die alle Textversionen in- und übereinander abbildet. Mit unterschiedlichen Farben gedruckt, lässt sich mit einem Blick erkennen, welche Passagen wann hinzugefügt und wann wieder gestrichen worden sind.

Auf der linken Buchseite die Erstausgabe von 1920, rechts die Fassung letzter Hand von 1978, und farbig abgesetzt jeweils das Ergänzte und Gestrichene: Es gibt nur wenige Passagen, die auf beiden Seiten identisch wären. Ein umfangreiches Variantenverzeichnis im begleitenden Kommentarband erfasst zudem alle kleineren Änderungen, die zugunsten der Lesbarkeit nicht direkt im Text sichtbar gemacht werden können.

Kiesels philologisches Unternehmen ist revolutionär. Er gibt einem über Jahrzehnte beweglich gebliebenen Text eine feste Form, die aber gerade die Veränderungen sichtbar macht und auch Lücken und Leerstellen zu inszenieren vermag. Das so entstandene Resultat ist ein neues, aufregendes Leseabenteuer, das zu genießen man kein Philologe sein muss. Es lässt aber erkennen, welche Erkenntniskraft in angewandter Philologie steckt. So verweist Kiesel in seiner umfangreichen Einleitung unter anderem darauf, dass das Wort "Trauer" zum ersten Mal 1961 in den Text gerät - verantwortlich dafür war aber Jüngers damalige Lektorin Liselotte Lohrer, seine spätere zweite Ehefrau.

Eine Passage, in der Jünger einen von ihm getöteten britischen Soldaten betrachtet, endet nun so: "Der Staat, der uns die Verantwortung abnimmt, kann uns nicht von der Trauer befreien; wir müssen sie austragen. Sie reicht tief in die Träume hinab." Für Kiesel ist die Stelle auch deshalb bemerkenswert, weil Jünger damit Alexander Mitscherlichs 1967 erschienenem Bestseller "Die Unfähigkeit zu trauern" um einige Jahre voraus gewesen ist. Kiesels philologischer Spürsinn und die Brauchbarkeit dieser wunderschön gestalteten Ausgabe sind gar nicht hoch genug zu veranschlagen. An dieser "Jahrhundertedition" kommt niemand vorbei, der sich ernsthaft mit den "Stahlgewittern" beschäftigen möchte.

Besprochen von Jörg Magenau

Ernst Jünger: "In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe."
Herausgegeben von Helmuth Kiesel
Klett-Cotta, Stuttgart 1913
2 Bände, 648 und 598 Seiten, 68,00 Euro
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