Nicolaus A. Huber und Mathias Spahlinger

Musik mit Marcel Duchamp

Moma in Berlin: Marcel Duchamp Fahrrad-Rad von 1951.
Duchamp begriff das Außerästhetische als Teil des Ästhetischen: "Roue de Bicyclett" (1913) war das erstes Readymade Duchamps, hier die früheste erhaltene Replik aus dem Jahr 1951. © imago / Brigani Art / Artist at Work / Heinri
Vorgestellt von Carolin Naujocks · 03.06.2021
Marcel Duchamp gehörte zu den innovativsten Künstlern des 20. Jahrhundert. Seine Überzeugungen, Ideen und radikalen Projekte wirkten in vielen Bereichen richtungsweisend und immer wieder haben sich Künstler auf seine Arbeiten bezogen.
Bereits 1912 hatte Marcel Duchamp versucht, das Kunstwerk vom Ballast oberflächlicher Emotionen und als Sensibilität getarnter Willkür zu befreien und begann sich gezielt von der Idee des "subjektiven Ausdrucks" abzuwenden. Er versuchte Werke zu schaffen, die sich den Affirmierungstendenzen und der Verwertungslogik des Kunstbetriebs entziehen.
Dabei war er alles andere als langweilig. Wie sein Schachpartner Eric Satie liebte Duchamp Parodien und Paradoxien; er bediente sich des Kuriosen, stellte ein Fahrrad-Rad umgekehrt auf einen als Sockel fungierenden Küchenhocker, klebte der Mona Lisa einen Schnurrbart und schlug einen gezielt leichten und unbekümmerten Ton an.

Verblüffende Beziehungen zum Realen

Dieses Wundersame, Flirrende ist es, was den Essener Komponisten Nicolaus A. Huber besonders anzieht. Bei Marcel Duchamp ist er auf den Begriff "inframince" gestoßen, dessen Bedeutung ihn sogleich elektrisiert hat. Für Duchamp ist der Akt des Vergessens ebenso "inframince", wie die Nachwärme eines Stuhls, von dem gerade eine Person aufgestanden ist, oder der Raum zwischen der Vorder- und Rückseite eines Blattes Papier.
Zwei Aktionen in Hubers Ensemblestück "l'inframince – extended" beziehen sich direkt auf Duchamp: laut Spielanweisung ist am Ende des zweiten Satzes "die mittlere Seite eines größeren Buches in beide Hände zu nehmen, hochzuheben und in mehreren Stadien, dem Publikum die Dünne der Seite zeigend, hin zu halten". Auch liefert Huber Duchamps grünen Strahl ("Le Rayon Vert") nach, der in er Surrealisten-Ausstellung von 1947 von niemandem gesehen wurde.
Der Komponist zitiert den chinesischen Denker Xunzi: "Entweder der Anblick ist gleich, aber an verschiedenen Orten, oder der Anblick ist verschieden, aber am gleichen Ort."

Bewegung ist Widerspruch

Der Titel von Mathias Spahlingers Orchesterstück "akt, eine treppe herabsteigend" bezieht sich direkt auf Duchamps gleichnamiges Gemälde aus dem Jahr 1912. Dieses zeigt die Darstellung einer sich bewegenden Figur, wobei die Bewegung durch ihre Zerlegung in ein Raster von Zeitpunkten dargestellt wird, und somit - fotografisch gedacht - mehrere Momentaufnahmen gleichzeitig und übereinander gelagert im Bild festhalten sind.

So eng die rasterhafte Zerlegung der Bewegung sein mag, ist sie jedoch nie die Bewegung selbst, sondern simuliert diese nur auf eine die Sinne überlistende Art und Weise. Diesen Widerspruch hat Mathias Spahlinger in seinem Stück aufgenommen und thematisiert ihn hier - spezifisch musikalisch - auf unterschiedlichen Ebenen.
Das eigentliche Thema des Stückes, so Spahlinger, sind Tonhöhen in kontinuierlicher Bewegung, Glissandi also, und deren Darstellung in Stufen. Entscheidend sind die Umschlagpunkte der musikalischen Wahrnehmung, wo kontinuierliche Bewegungen als Bewegungen in Stufen (oder umgekehrt) interpretiert werden.

Nicolaus A. Huber
"l'inframince – extended"
3 Sätze und eine Frankfurter Coda ad lib. (2013/14)
Ensemble Modern
Leitung: Ilan Volkov

Mathias Spahlinger
"akt, eine treppe herabsteigend"
für Bassklarinette, Posaune und Orchester (1998)
David Smeyers, Bassklarinette
Michael Svoboda, Posaune
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
Leitung: Jürg Wyttenbach

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