Nicolas Mathieu: "Wie später ihre Kinder"

Die Hölle der Gleichförmigkeit

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Buchcover zum Roman "Wie später ihre Kinder" von Nicolas Mathieu.
Auf dem Land bleibt meist alles wie gehabt: Nicolas Mathieus Roman "Wie später ihre Kinder". © Carl Hanser Verlag
Von Dirk Fuhrig · 05.08.2019
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In seinem Roman "Wie später ihre Kinder" beschreibt Nicolas Mathieu das Teenager-Leben in der französischen Provinz in den 90ern. Eindringlich stellt er dar, wie schwierig es ist, als Jugendlicher aus den vorgegebenen Lebensstrukturen auszubrechen.
Die Stahlindustrie, die Lothringen einst einigermaßen Wohlstand gebracht hatte, liegt am Boden. Ähnlich wie das Ruhrgebiet oder Teile Ostdeutschlands, steht die Region vor dem Niedergang, die Umbrüche werden schlecht gemanagt, die Folgen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche werden noch Jahrzehnte spürbar sein - im Fall Ostfrankreichs in extrem hohen Zustimmungsraten für die extreme Rechte.
"Wie später ihre Kinder", für den der 1978 geborene Nicolas Mathieu 2018 überraschend mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, spielt in mehreren Sommern der 90er-Jahre. Anthony, ein Jugendlicher, der nicht recht weiß, was er mit sich anfangen soll, will raus aus dem Milieu der spießigen Einfamilienhäuser. Sein zur Gewalt neigender Vater hält sich mit kleinen Gärtner-Jobs über Wasser. Seine Affären nicht abgeneigte Mutter bezeichnen sie im Dorf als "Schlampe". Die beiden geben sich mit großer Leidenschaft ihrem einzigen Hobby hin: allabendliche Grill-Besäufnisse mit den Nachbarn.

Soll man sich fügen oder ausbrechen?

Schrebergarten-Mentalität, Kleinstadt-Cowboys, Mofa-Rocker, dazu viel Marihuana-Konsum und Halbstarken-Getue - in dieses Setting taucht der Roman lustvoll ein. Die Jugendlichen konkurrieren um die Gunst der Mädchen während der drückend langen, untätigen Ferienmonate. Wer auf dem Land - ob wie hier in diesem Buch zwischen Nancy und Metz, in Deutschland oder anderswo auf der Welt - aufgewachsen ist, kennt diese Atmosphäre. In der Pubertät spitzen sich die Dinge zu, und es stellt sich die Frage, ob man sich dem Mainstream fügt, oder ausbricht aus dieser beschränkten Welt mit ihren traurigen Autobahnraststätten und den gigantischen Einkaufszentren auf der grünen Wiese.
Nicolas Mathieu fängt die kraftvolle Jugend- und Alltagssprache, die ländlichen Sitten und Gebräuche in seinem Text hervorragend ein. Das Ganze gegliedert durch Musik von Nirvana ("Smells Like Teen Spirit") bis Gloria Gaynor ("I Will Survive"). Vieles ist lustig, aber auch unheimlich. Er schreibt wunderbar lakonische, staubtrockene Sätze wie: "Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus."

Dicht an der Realität

Der Roman fügt sich in die modernen Szenen aus dem Provinzleben ein, das von Balzac geprägte Genre, das die französische Literatur seit einigen Jahren wieder entdeckt hat, mit Autoren wie Édouard Louis, Didier Eribon oder Philippe Besson. Auch am Beispiel diese Buchs zeigt sich, wie dicht Frankreichs Schriftsteller an der Realität sind. Die sozialen und gesellschaftlichen Fragen werden in diesen Texten viel dringlicher diskutiert als etwa in der deutschsprachigen Literatur.
Nicolas Mathieus Notizen aus der lothringischen Provinz sind keine scharfe Anklage an die Politik, die - wie etwa bei Eribon und Louis - für alles Elend verantwortlich gemacht wird. Mathieus Gesellschaftspanorama ist breiter und differenzierter. Er beschreibt einen sozialen Kosmos, in dem die jungen Leute in ihrer Herkunft und ihrem Denken gefangen sind. Das Überwinden der vorgegebenen Lebens-Strukturen gelingt nur Wenigen. "Wie später ihre Kinder" - Teil eines Spruchs über die Vergessenen aus dem Alten Testment - ist ein fatalistischer Titel, der die Hölle der Gleichförmigkeit anklingen lässt. Es ist ein tief trauriges, melancholisches Buch - geschrieben in einer subtilen, sanft ironischen, sehr authentischen Sprache. Einer der mitreißendsten Romane dieses Sommers.

Nicolas Mathieu: "Wie später ihre Kinder"
Aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen
Hanser Berlin, Berlin 2019
448 Seiten, 24 Euro

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