"Nicht nur ein militärisches Problem"

Egons Ramms im Gespräch mit Nana Brink · 20.11.2010
Bundeswehr-General a.D. Egon Ramms warnt vor einem schnellen Rückzug der NATO-Truppen aus Afghanistan. Denn das gefährde die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung. Schon jetzt sei es sehr schwierig, überhaupt staatliche Kontrolle auszuüben.
Nana Brink: Seit gestern treffen sich die 28 NATO-Mitglieder in Lissabon und besprechen ihre neue Strategie. Und der heutige Tag soll auch den Anfang vom Ende der Afghanistan-Mission der NATO markieren. Schon im Vorfeld des Gipfels hat sich ja Präsident Obama festgelegt: 2014 sollen die amerikanischen Truppen das Land am Hindukusch verlassen haben. Die Deutschen stimmten bereitwillig ein in die Abzugspläne, und schon im nächsten Jahr sollen die ersten Truppen abgezogen werden. Es scheint, als hätte die NATO ihren Frieden mit Afghanistan gemacht, aber hält die neue Harmonie der Realität stand?

Am Telefon ist jetzt Egon Ramms, General im Ruhestand und bis vor Kurzem NATO-Befehlshaber und in dieser Funktion auch für den ISAF-Einsatz in Afghanistan zuständig. Einen schönen guten Morgen, Herr Ramms!

Egon Ramms: Guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Ist es militärisch gesehen nicht fahrlässig, seinem Gegner, also den Taliban, zu signalisieren, 2014 sind wir weg?

Ramms: Diese Diskussion haben wir ja seit dem 1. Dezember vergangenen Jahres, seit der berühmten Rede des Präsidenten Obama in West Point, und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir uns in einigen Bereichen mit dieser Abzugsdiskussion einfach zurückhalten würden. Sie hat nicht nur bei den Taliban möglicherweise eine Wirkung, sie hat auch eine Wirkung bei der afghanischen Bevölkerung, denn die afghanische Bevölkerung, das haben Meinungsumfragen gezeigt, hat sich in den letzten Wochen, letzten Monaten eigentlich durch den Schutz der ISAF immer wohler gefühlt, und durch unsere Abzugsdiskussionen sorgen wir dafür, dass die afghanische Bevölkerung große Sorgen bekommt.

Brink: Dann ist es also eine politische Sache. Der ISAF-Kommandeur in Kabul, der amerikanische General David Petraeus, der Ihnen ja auch vormals unterstellt war, ist not amused über die permanente Nennung des Abzugsdatum 2014. Ist das militärisch gesehen, noch mal gefragt, auch dann wirklich fahrlässig?

Ramms: Ich würde es nicht als fahrlässig bezeichnen, weil die Kräfte, die wir im Land haben, ihren Auftrag dort drüben ausführen können und damit auch weiter für den Schutz für die afghanische Bevölkerung sorgen, in den Teilen, wo wir sind. Wobei wir natürlich immer wissen müssen, dass bei dem Thema asymmetrische Bedrohung ein solcher Schutz durch Selbstmordattentäter, durch die berühmten Sprengfallen und dergleichen mehr zum Teil auch marginalisiert werden kann.

Brink: Halten Sie denn den totalen Rückzug 2014 für unrealistisch?

Ramms: Ich bin persönlich davon überzeugt, dass ein solcher Zeitplan nur dann funktionieren kann, wenn alle Voraussetzungen, um einen solchen Rückzug durchzuführen, auch tatsächlich gegeben sind. Und das weniger ein Problem der Sicherheit, die durch die Soldaten gewährleistet wird oder möglicherweise später dann auch durch die afghanischen Sicherheitskräfte geleistet wird, sondern das ist mehr ein Problem des gesamten "nation building" Afghanistan. Wenn ich an Wiederaufbau, wenn ich an Regierungsfähigkeit denke, dann habe ich meine Zweifel, dass sich dieser ganze Prozess mit der Geschwindigkeit steuern lässt.

Brink: Aber dann bleiben wir doch mal bei Ihrem Gebiet, nämlich beim Militär: Schon im nächsten Jahr sollen die ersten Provinzen an die einheimischen Sicherheitskräfte übergeben werden. Sie werden von den NATO-Kräften ausgebildet, das nennt man "Partnering" – auch die Bundeswehr ist daran beteiligt in ihrem Sektor im Norden –, und immer wieder erreichen uns aber Meldungen, wie mühsam das ist. Das kann man doch bis 2014 dann gar nicht abschließen.

Ramms: Es ist sicherlich richtig, dass, nachdem wir ich sag mal quantitativ eine ganze Menge afghanischer Sicherheitskräfte, Militär und Polizei aufgestellt und ausgebildet haben, dass wir jetzt in die Qualität für diese Kräfte reingehen müssen und dass dies ein Prozess ist, der sehr schwierig ist. Er beginnt da, dass ich sage mal fast 70 Prozent der Anwärter - als Soldaten und als Polizisten - weder lesen noch schreiben können, und dass praktisch mit einer ich sage mal Grundausbildung in Lesen und Schreiben die Ausbildung beginnt und dann hinterher mit den militärischen oder polizeilichen Themen fortgesetzt wird. Von daher ist das ein Prozess, der Zeit kostet. Und das ist auch ein Punkt, auf den David Petraeus immer wieder hingewiesen hat: Es muss ein Prozess sein, der auf der Basis erfüllter Bedingungen ablaufen muss, und dieses soll entsprechend bewertet werden. Dazu setzt man sich heute in Lissabon zusammen und wird ein entsprechendes Papier, welches gemeinsam erarbeitet worden ist zwischen der afghanischen Regierung, ISAF, dem National …, dem Senior NATO Representative in Afghanistan und dem NATO-Hauptquartier in Brüssel, beschließen. Auf der Basis soll der Prozess dann in Gang gebracht werden. Aber wie gesagt, die Zeitachse ist ein kritischer Bereich.

Brink: Müssen sich die Mitglieder der NATO beim Gipfel dann nicht eingestehen – und so klingt das ja eigentlich, wenn man immer wieder dieses Abzugsdatum nennt, ein politisches Datum –, die militärische Mission in Afghanistan ist gescheitert, es geht jetzt nur noch um einen geordneten Rückzug?

Ramms: Nein, die Militärs, Petraeus, ich selber haben in der Vergangenheit immer darauf hingewiesen, dass dieses Problem nicht nur ein militärisches Problem ist, sondern ein Gesamtproblem, bei dem das Militär und die Sicherheit vielleicht 20 Prozent Bedeutung haben oder eine Rolle spielen, die 20 Prozent ausmacht. Und das Problem, welches wir tatsächlich haben, ist, dass die anderen 80 Prozent nicht hinterherkommen.

Brink: Also zum Beispiel der zivile Aufbau. Im Zusammenhang mit der neuen NATO-Strategie in Afghanistan sprechen wir auch immer wieder über den vernetzten Ansatz, also die Zusammenarbeit zwischen dem zivilen Bereich – administrativ, wirtschaftlich, juristisch – und dem militärischen Bereich. Funktioniert denn diese Zusammenarbeit dann auch nicht richtig in Afghanistan?

Ramms: Diese Zusammenarbeit hat – ich sag das mal ganz vorsichtig – eine ganze Menge Löcher und Lücken. Es gibt bestimmte Bereiche – Sie haben gerade das Thema Justiz angesprochen –, die weit hinter den anderen Aufbauarbeiten hinterherhinken, und wenn Sie ein richtiges Vollzugssystem in Afghanistan haben wollen, wenn Sie in der Lage sein wollen, überhaupt staatliche Kontrolle auszuüben, dann brauchen Sie ein solches System, welches bis heute nicht existiert. Und so gibt es im Verwaltungsbereich andere Bereiche auch, wo wir eigentlich schneller und wesentlich intensiver im Rahmen des vernetzten Ansatzes investieren müssen, um Fortschritte zu erreichen.

Brink: Wenn Sie jetzt noch NATO-Befehlshaber wären, Sie sind ja erst seit Kurzem in Pension, und würden nach Afghanistan reisen, was würden Sie der Bevölkerung dort sagen – wenn alles nicht funktioniert, wir bleiben auch nach 2014 noch da?

Ramms: Das ist eine Botschaft gewesen, die ist nicht neu, sie ist bereits über einen anderen Sender mal verkündet worden an die Afghanen in Dari und Paschtu, damit die afghanische Bevölkerung dieses auch versteht. Und so viel ich weiß, sind diese Äußerungen von mir in Reaktion der afghanischen Bevölkerung sehr positiv begrüßt worden.

Brink: Also Sie würden das wiederholen?

Ramms: Ich würde das wiederholen, jawohl!

Brink: Egon Ramms, General im Ruhestand und bis vor Kurzem NATO-Befehlshaber. Einen schönen Dank für das Gespräch!