"Nicht nur ein kurzfristiges Empören oder Aufflackern"

Christoph Bieber im Gespräch mit Katrin Heise · 15.02.2012
Ein neuer Marktplatz für politische Kommunikation entsteht: Die Wirklichkeit komme inzwischen dem viel propagierten Begriff der "elektronischen Agora" näher, meint der Politikwissenschaftler Christoph Bieber. Doch die Entscheidungsprozesse könnten das Tempo der digitalen Medien nicht mithalten.
Katrin Heise: Konzerne wie Henkel oder Nestlé haben schon länger Erfahrung mit virtuellen Empörungsstürmen, die ihre Produkte vom Markt zu fegen drohten. Für die Politik ist das noch relativ neu, aber wenn politische Entscheidungen die Netzgemeinde in ihrer Freiheit zu beschneiden drohen, dann trommelt diese virtuell und auch real. Und die politischen Akteure zeigen sich beeindruckt, siehe die zurückgestellte Unterschrift unter ACTA. Aber auch die US-amerikanischen Internetgesetze Sopa und Pipa wurden auf Eis gelegt, weil die Abgeordneten der Kritik der Netzgemeinde nachgaben, oder vor einiger Zeit die damalige Familienministerin von der Leyen, die den Zugang zu Seiten mit Kinderpornografie sperren wollte. Fazit: Wenn die Internetnutzer sich organisieren, dann sorgen sie für mediale und politische Aufmerksamkeit wie kaum eine andere soziale Bewegung.

Über die Gründe möchte ich mehr erfahren von Christoph Bieber, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, er hat die Professur für Ethik in Politik, Management und Gesellschaft inne. Schönen guten Morgen, Herr Bieber!

Christoph Bieber: Schönen guten Morgen!

Heise: Wer Tausende von Protest-Mails bekommt, der mag sich schnell unter Druck gesetzt fühlen, das kann man nachvollziehen. Und wenn dann noch in zig Städten real protestiert wird, immer noch mehr. Wie erfahren oder unerfahren sind Politiker eigentlich im Umgang mit Online-Communitys? Schätzen sie deren Bedeutung eigentlich immer richtig ein?

Bieber: Na ja, also, im Jahr 2012 hat man da eigentlich keine wirklich gute Ausrede mehr als Politiker, dazu ist in den letzten Jahren viel zu viel passiert. Und spätestens seit 2009 und der öffentlichen Aufregung um das sogenannte Zensursula-Gesetz oder -Verfahren sollte es eigentlich jedem Politiker bekannt sein, dass sich das Netz in manchen Fällen tatsächlich regt, und dass aber die Kommunikation eben dort nicht verbleibt, sondern eben auch in die alten Medien und auf die Straße schwappt. Und da kann eigentlich jetzt keiner mehr sagen: Oh, das ist mir neu!

Heise: Ja, aber täuscht dieser massenhafte Internetprotest gegen beispielsweise ACTA-Abkommen oder irgendetwas, was das Internet betrifft, nicht möglicherweise so eine Relevanz vor, die dem gar nicht zukommt?

Bieber: Na ja, auch da ist wieder die Geschichte der letzten zwei Jahre schon interessant, denn die Zensursula-Proteste waren eigentlich so etwas wie der Ursprung oder die Keimzelle für die Entstehung, Etablierung der Piratenpartei, die nun auch als ganz realer politischer Akteur von sich reden macht und eben kein digitales Phänomen mehr ist. Und das zeigt dann doch, wenn so etwas passiert, dass tatsächlich sich ein neuer Akteur bildet, dass viele Menschen auch dieser Partei beitreten und so anzeigen, dass sie längerfristig politisch aktiv sein wollen, dass hier das nicht nur ein kurzfristiges Empören oder Aufflackern ist.

Heise: Über diese Kurzfristigkeit oder eben Längerfristigkeit würde ich gerne noch ein bisschen länger sprechen, weil, tatsächlich, ein paar Klicks sind schnell gemacht, auch schnell wieder vergessen. Eine Partei oder auch nur eine Bürgerinitiative zu gründen, beizutreten, Diskussionen zu bestreiten, Entscheidungsprozesse zu begleiten, also, diese ganz altmodische Art eben, sich politisch zu engagieren, das ist ja doch wesentlich mühsamer. Für wie nachhaltig schätzen Sie die Aktion der Netzgemeinde tatsächlich ein? Ich meine die Piraten: Eine Partei, die sich gegründet hat, ja klar, aber wen repräsentieren sie denn tatsächlich?

Bieber: Natürlich ist es möglich, durch einen hochgereckten Daumen so etwas wie Zustimmung oder auch Ablehnung auszuweisen im Netz, aber da wissen viele Menschen eben schon, dass das keine besonders intensive, nachhaltige politische Kommunikation ist. Wenn man sich digital beteiligen möchte und das zum Beispiel über eine E-Petition tut, die an den Bundestag gerichtet ist – was in Deutschland ein relativ verbreitetes Verfahren mittlerweile schon ist …

Heise: … also eine Petition, die man dann eben elektronisch eingibt …

Bieber: … ja, und die ist gar nicht so unaufwändig. Also zum Beispiel aufwändiger als das Unterschreiben einer Unterschriftenliste auf dem Marktplatz. Und wir haben also diese Ein-Klick-Beteiligung, wenn man so will, schon auch mit dem Kugelschreiber in der Fußgängerzone. Und insofern ist das ein sehr, sehr vorschnell vorgebrachtes Argument, das ginge so leicht. Wenn man natürlich mit diesem Protest etwas erreichen will, dann muss man schon auch etwas aufwändiger digital kommunizieren, eben zum Beispiel mit solchen Petitionen, die in ein Verfahren eingebunden sind, wo man sich dann eben entsprechend auch eintragen muss, wo man auch mit diskutieren kann, und wo man davon ausgeht, dass es so etwas wie eine Folgekommunikation gibt.

Und dann ist es nicht mehr der eine Klick, dann ist es vielleicht auch der ein oder andere Kommentar, dann ist es vielleicht eine Notiz bei Facebook, vielleicht ein paar Tweets bei Twitter oder vielleicht auch der eigene Blog-Eintrag. In manchen Fällen führt die Kommunikation über politische Themen im Netz auch dazu, dass Nutzer überhaupt erst neue Kommunikationswege kennenlernen und tatsächlich dann vielleicht, wenn auch nur kurzfristig, zu einem Blogger werden, der sich dann tatsächlich politisch äußert. Und das ist mehr, als einfach nur einmal zu klicken.

Heise: Wie verändert das Ganze eigentlich die politische Öffentlichkeit? Vor ein paar Jahren wurde über das Internet als elektronische Agora gesprochen, also als der Marktplatz, auf dem die Demokratie lebt. Ist das wirklich so? Denn ich meine, es gibt ja immer noch Menschen und es wird sie auch immer geben, die nicht online sind.

Bieber: Ja, so wie es vorher auch Menschen gab, die sich nicht auf den realen Marktplätzen am politischen Leben beteiligt haben. Dieses Reden von der elektronischen Agora gibt es tatsächlich schon etwas länger und ich glaube, jetzt erst nähern wir uns so ganz langsam einem Zustand an, der diesen Begriff auch verdient. Natürlich gibt es unheimlich viele Stellen im Netz, an denen politisch kommuniziert wird. Die Schwachstelle im Moment ist vor allen Dingen, dass es noch sehr wenige Schnittstellen zu den analogen politischen Prozessen und Verfahren gibt, und die muss man sich offenbar ganz mühsam erst erkämpfen und erarbeiten. Die Piratenpartei könnte eine solche Schnittstelle sein, einfach weil sie einen, wenn man so will, eine Art Hyperlink in das politische System darstellt. So gelangen Ideen, Kommunikation, Diskussionen aus dem Netz auch an etablierte politische Akteure heran.

Andere Formen wie jetzt die Demonstrationen im öffentlichen Raum, in diesem Fall rund um das ACTA-Abkommen, haben auch eine solche Funktion oder können eine solche Funktion einnehmen, dass sie eine Diskussion, die bislang vor allen Dingen im Netz geführt wird, aus diesem digitalen Raum herausführen in den Raum der Straße, aber eben dann auch wieder in den Raum der alten Medien. Und es ist immer noch so: Das, was dort berichtet wird, das nehmen die meisten Politiker tatsächlich noch stärker wahr als das, was online diskutiert wird.

Heise: Im "Radiofeuilleton" unser Thema: politische Öffentlichkeit und Internet, mit Christoph Bieber von der Universität Duisburg-Essen. Kommen wir mal zu den Themen Urheberrecht und Zensur im Internet: Das sind ja wichtige Themen, zweifelsohne. Aber es gibt bisher jedenfalls keinen massenhaften Aufschrei im Internet gegen das Morden in Syrien beispielsweise, gegen Hartz IV oder den Euro-Rettungsschirm. Fallen diese Themen immer mehr runter, wenn Internetbeteiligung immer mehr zunimmt?

Bieber: Na ja, sie sind unter Umständen sehr viel schwieriger kommunizierbar. Auch wenn es sich vielleicht nicht so anhört, aber gerade das auch eher abstrakt formulierte ACTA-Abkommen hat zumindest in den Perspektiven vieler Demonstranten so etwas wie einen konkreten Alltagsbezug. Das ist bei vielen anderen Themen nicht unbedingt gegeben. Daraus speist sich, denke ich, auch ein großer Teil der Motivation. Selbst wenn es formal nicht so sein mag, dass ganz konkrete Konsequenzen entstehen aus den Inhalten des ACTA-Textes, so entsteht bei vielen Nutzern der Eindruck, dass sich die Politik hier in einen Lebensbereich einmischen möchte, möglicherweise ohne genug darüber zu wissen – über die spezifische Form der Kommunikation, auch der Kultur, die dort vorherrscht. Und das scheinen doch viele Menschen als eine Art feindlichen Akt zu interpretieren und setzen sich zur Wehr. Und das passiert eben gerade dann, wenn das Alltagshandeln davon betroffen scheint, perspektivisch vielleicht bedroht scheint. Und das führt zu einer starken Politisierung.

Heise: Von Hartz IV wird aber zum Beispiel das Alltagshandeln ja auch bedroht, oder Hartz IV bedroht den Menschen im Alltag ja durchaus auch. Da ist aber, wie gesagt, die Aktivierung im Internet nicht so!

Bieber: Da könnte man nun erst mal davon ausgehen, dass diejenigen, die konkret dieses Problem haben, vielleicht nicht relevante Teile ihrer Tageszeit auch im Netz verbringen und entsprechend dies als einen Kanal für eine politische Äußerung betrachten. Das kann aber perspektivisch durchaus auch anders werden, wenn das Internet noch stärker in den Alltag hineinreicht, wenn tatsächlich die Online-Kommunikation noch weiter verbreitet sein wird. Und dann mag es tatsächlich sein, dass auch solche Themen dort einen größeren Raum finden. Im Moment haben wir es hier schon noch mit einer gewissen Avantgarde zu tun, die dann andeutet, in welcher Weise man tatsächlich in der nächsten Zeit auf sich aufmerksam machen kann.

Ich glaube, es ist noch ein zweiter Punkt wichtig, was die Motivation für die Proteste angeht: In vielen Fällen sind die Gesetzesentwürfe, die diskutiert werden, auf einer Sachebene problematisch. In fast noch mehr Fällen kommen sie in eher intransparenter Art und Weise zustande. Und das ist natürlich auch etwas, was sich mit der generellen Haltung und Kommunikation von vielen Menschen im Netz nicht besonders gut verträgt. Transparenz gilt vielen Menschen, die sich häufig im Netz bewegen, fast schon als ein abstrakter Wert. Und in dem Moment, wo sich die Politik eher intransparent verhält, dann führt das natürlich auch tatsächlich zu einer Politisierung.

Heise: Ich würde gerne einen Punkt noch ansprechen, nämlich die Geschwindigkeit. Bisher steht das Internet für Geschwindigkeit. Geschwindigkeit hat der Demokratie aber bisher eigentlich nicht unbedingt immer gutgetan, das schnelle Reagieren. Was sehen Sie da in der Zukunft auf uns zukommen?

Bieber: Das ist ein sehr spannender Punkt, denn Politik wird auch in absehbarer Zeit nicht so schnell handeln können, wie das Tempo aus den digitalen Medien vorgegeben wird. Und so könnte sich hier so etwas wie eine Art Entschleunigung ergeben. Dass also tatsächlich politische Prozesse in ihrer Langsamkeit dazu beitragen können, dass bestimmte Fragen tatsächlich auch erst mehrfach abgewogen und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden müssen, weil es gar nicht anders geht. Und das kann unter Umständen auch ganz heilsam sein, denn nicht alles das, was aus dieser doch sehr, ja, netzaffinen und technologieoptimistischen Perspektive kommt, muss tatsächlich auch politisch, demokratisch, öffentlich gut sein. Und insofern ist es ganz interessant zu schauen, wie sich dieses schnelle Netz und die langsame Politik in der nächsten Zeit arrangieren werden.

Heise: Sagt Christoph Bieber, Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, der sich schwerpunktmäßig mit den Neuen Medien auseinandersetzt. Herr Bieber, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Bieber: Bitte sehr!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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