"Nicht immer ist alles solide abgesichert"

Hans Mathias Kepplinger im Gespräch mit Dieter Kassel · 08.02.2012
Hans Mathias Kepplinger, Professor für empirische Kommunikationsforschung an der Uni Mainz, sieht die Rolle der Medien bei den Vorwürfen gegen Bundespräsident Christian Wulff kritisch. Zum Teil seien Dinge "an den Haaren herbeigezogen".
Dieter Kassel: So Mitte, Ende Dezember haben sich viele Leute nur noch gefragt, wann Christian Wulff eigentlich zurücktritt. Ein paar Wochen später, im Januar, lautete die Frage dann schon wieder, ob er wohl zurücktritt, und inzwischen, da fragen sich die meisten Menschen eigentlich nur noch, wann die ganze Affäre endlich vorbei ist, von einem Rücktritt ist kaum noch die Rede.

Ob die neuen Vorwürfe, die die "Bild"-Zeitung heute erhebt, Christian Wulff habe sich einen Sylt-Urlaub von einem befreundeten Unternehmer finanzieren lassen und dieser Unternehmer versuche jetzt angeblich auch noch, das Ganze zu vertuschen, ob diese Vorwürfe daran etwas ändern werden, das ist, sagen wir mal, zumindest fraglich.

Wir wollen über die Affäre Wulff und vor allen Dingen über die Frage, was denn da nun eigentlich passiert ist und was für Folgen das hat, jetzt mit Hans Mathias Kepplinger reden. Er ist Professor für empirische Kommunikationsforschung an der Uni Mainz und Autor mehrerer Bücher zu Skandalen in der Politik und dem medialen Umgang damit. Einen schönen guten Morgen, Professor Kepplinger!

Hans Mathias Kepplinger: Ja, guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Wenn man von diesem Zwischenschuss der "Bild"-Zeitung heute Morgen mal absieht, haben Sie den Eindruck, das Ganze ist eigentlich schon vorbei, man muss sagen, Wulff hat es überlebt?

Kepplinger: Das ist mein Eindruck schon seit zweite Hälfte Dezember. Weil die Interessenlage von Wulff eine ganz andere ist als etwa die Interessenlage von zu Guttenberg und anderen Politikern, die skandalisiert wurden.

Kassel: Wo ist der Unterschied?

Kepplinger: Nun, wenn man sich fragt, warum tritt ein Politiker in einem Skandal zurück, da gibt es zwei Hauptgründe. Der eine Hauptgrund besteht in dem psychologischen Druck, dem die Skandalisierten ausgesetzt sind: Sie sagen, ich will mir das und ich will das auch meiner Familie nicht mehr zumuten.

Klassischer Fall war Köhler oder meinetwegen Lothar Späth. Der zweite Grund ist, die Skandalisierten spüren, dass sie politischen Rückhalt verlieren und dass sie riskieren, entlassen zu werden. Das ist der typische Fall, etwa in jüngerer Zeit, zu Guttenberg. In dieser Situation ziehen Politiker es vor, selber zurückzutreten, um sozusagen das Konzept der Handlung zu behalten. Das alles trifft aber auf Wulff nicht zu.

Kassel: Man kann einen Bundespräsidenten nicht zum Rücktritt zwingen oder nur unter sehr seltenen Umständen, insofern trifft es nicht zu. Aber was Sie gerade gesagt haben, dass man politischen Rückhalt verliert, das scheint doch zuzutreffen? Auch seine Parteikollegen in Niedersachsen beginnen ja, sich vorsichtig zu distanzieren beispielsweise.

Kepplinger: Das ist richtig. Er kann Rückhalt verlieren, auch in der Bevölkerung kann er Rückhalt verlieren, Zustimmung verlieren. Nur kann ihn das in seiner Position nicht gefährden. Und seine Interessenlage, also Wulffs Interessenlage ist eben eine ganz andere als meinetwegen die von zu Guttenberg. Wenn nämlich Wulff im Amt bleibt, wenn er nicht zum Rücktritt gezwungen werden kann etwa durch ein Gerichtsverfahren, wenn Wulff im Amt bleibt, hat er gute Chancen, dass in drei oder vier Jahren die Mehrheit der Bevölkerung sich verwundert fragt, was war denn eigentlich mit Wulff, da war was mit dem Haus und mit dem Urlaub, aber ich weiß es nicht mehr? Diese Chance, dass die Mehrheit das vergisst, hat er, und damit auch die Chance, seinen Ruf zumindest einigermaßen wieder herzustellen.

Kassel: Wenn ich noch mal kurz, Herr Kepplinger, auf das zurückkommen darf, was Sie gerade ganz zu Anfang gesagt haben: Irgendwann Mitte Dezember haben Sie für sich den Entschluss gefasst, der tritt nicht zurück. Das heißt, nach dem 13. Dezember, also dem Tag, an dem die "Bild"-Zeitung das erste Mal die Vorwürfe erhoben hat, er hätte vor dem niedersächsischen Landtag nicht die Wahrheit gesagt, haben Sie da zumindest ganz kurz doch mal gedacht, das könnte das Ende sein?

Kepplinger: In den ersten Tagen ja, aber es gibt eine ganze Reihe von Hörfunk-Interviews, die ich im Dezember schon gegeben habe, in denen ich damals immer prognostiziert habe, gelegentlich zur Empörung der Interviewerinnen, in denen ich damals schon prognostiziert habe, die Sachlage von Wulff ist nicht vergleichbar wie die Sachlage von anderen.

Kassel: Diese Empörung ist ja ein interessantes Thema. Wenn man sieht, wie die "Bild"-Zeitung heute noch mal ganz, ganz groß titelt mit den neuen Vorwürfen, wenn man sich anguckt, was viele andere Medien in allen Sparten in den letzten Wochen berichtet haben, ist dann der Eindruck richtig, den ich habe, dass viele Kollegen, also Medienkollegen, ihre eigene Macht überschätzt haben in dieser Affäre?

Kepplinger: Ich denke, ja. Sie haben das falsch eingeschätzt, weil normalerweise, ich würde sagen, in mindestens 90 Prozent aller anderen Fälle, die wir kennen, der angegriffene Politiker längst zurückgetreten wäre. Aber das beruht eben auf einer Fehleinschätzung der realen Ausgangslage der Betroffenen. Die ist bei Wulff eine andere, und Wulff ist auch ein anderer Typ als Köhler. Er ist jemand, der über Jahre in der Politik gestählt ist und nicht so schnell nachgibt. Und dann kommt, glaube ich, ein wesentlicher Punkt dazu: Er ist mit einer Frau verheiratet, deren Existenz auch an seinem Amt hängt.

Kassel: Es gab zwischendurch auch Vorwürfe an die Presse, das sei eine Hetzjagd, die da stattfinde. Können Sie solche Vorwürfe verstehen?

Kepplinger: Zum Teil sind diese Vorwürfe sicher berechtigt. Zum Teil ist es natürlich nicht berechtigt, weil die Presse hier richtige, auch durchaus beachtenswerte Vorwürfe vorgetragen hat. Zum Teil aber sind es doch Vorwürfe, wo man sagen muss, das sind Dinge, die an den Haaren herbeigezogen sind, oder es sind auch Vorwürfe, die sofort fallen gelassen werden, wenn sich die Sache nicht erhärtet. Also, wir haben hier sehr viel Verdachtsberichterstattung und nicht immer ist alles solide abgesichert.

Kassel: Es wird vor allen Dingen immer wieder gesagt, das sei eine Affäre, wie sie in dieser Art und Weise noch nie dagewesen wäre in der Bundesrepublik. Stimmt das oder sehen Sie Parallelen zu älteren Fällen?

Kepplinger: Ja, es gibt eine Masse Parallelen. Nur, in der Konsequenz hatten wir eine solche Affäre noch nie. Aber die Vorgehensweise, die Mechanismen, um die es geht, die sind sehr ähnlich. Also, um ein Beispiel zu nehmen: Dass wir eine Kooperation zwischen verschiedenen Medien haben, das hat es schon oft gegeben, etwa bei dem erzwungenen Rücktritt von Lothar Späth, auch bei Manfred Stolpe hat es das gegeben.

Also, diese Kooperation zwischen Medien. Dann diese Entstehung von Empörung, die sich im Grunde loslöst von dem aktuellen Vorwurf und zu einem Dauerzustand wird in Teilen zumindest der Bevölkerung. Oder andere Dinge wie der erkennbar massive Druck auf den Skandalisierten. Wulff ist nun ein ziemlich harter Gegner, der sich nicht alles sofort im Gesicht anmerken lässt, aber auch bei Wulff erkennt man ja, wenn man ihn auf Bildern und im Fernsehen sieht, wie er unter psychologischem Druck steht. Alles das ähnelt sehr früheren Fällen.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur gerade über die Affäre Wulff und die Frage, ob und welche Folgen sie überhaupt hat, mit dem Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger. Herr Kepplinger, wenn wir uns jetzt mal ausmalen, dass das so endet – Sie haben es ja prognostiziert, es gibt mehrere Wochen Skandalisierung in den Zeitungen, in den anderen Medien, und irgendwann kehrt die Ruhe ein und Christian Wulff bleibt Bundespräsident –, wie wirkt das auf die Öffentlichkeit? Stichwort Politikverdrossenheit?

Kepplinger: Also, man muss davon ausgehen, dass diese ganze Affäre die Politikverdrossenheit steigert. Alles andere wäre naiv. Es wird die Zweifel an der Qualität der politischen Führungselite insgesamt, also nicht nur am Zweifel an Wulff, vergrößern. Und dann muss man natürlich die Frage stellen, auf wen ist das zurückzuführen? Ist das nur auf Wulff, also den Verursacher einer ganzen Reihe von sehr problematischen Verhaltensweisen, ist es also nur auf Wulff zurückzuführen, oder ist es nicht auch zum Teil zurückzuführen auf diejenigen, die Wulff in dieser Weise seit Wochen durch die Gegend jagen und sozusagen öffentlich vorführen?

Kassel: Das heißt, neben der Politikverdrossenheit kommt hier das Thema Medienverdrossenheit ins Spiel?

Kepplinger: Ja, zunächst mal schlägt sich das in Politikverdrossenheit nieder. Aber ich glaube schon, dass man in jüngerer Zeit auch im Journalismus gewisses Unbehagen erkennt über die Rolle, die die Medien hier spielen.

Kassel: Wird es denn gewissen Medien, die jetzt immer noch nicht nachgeben wollen, sag’ ich mal, schaden oder muss man eher sagen, wenn man nun angefangen hat, dann muss man auch weiter berichten?

Kepplinger: Also, für die "Bild"-Zeitung ist das, wie immer es ausgeht, natürlich ein einmaliger Triumph, denn die "Bild"-Zeitung hat sich aus der Schmuddelecke der Boulevardpresse endgültig befreit und hat sich als eines der Leitmedien im Konzert der Angesehenen etabliert. Zumindest glaube ich, dass die Redakteure und der Verlag es so sehen und dass ein Teil auch des Publikums das so sieht. Natürlich sehen das viele Journalisten gar nicht gern, aber faktisch ist die "Bild"-Zeitung sozusagen in die erste Riege der skandalisierenden und aufklärenden Medien vorgerückt.

Kassel: Zwischendurch hieß es, der "Spiegel", die "Frankfurter Allgemeine", mit Einschränkung vielleicht die "Süddeutsche Zeitung" – in einigen Kommentaren habe ich das gelesen – würden die Dreckarbeit der "Bild"-Zeitung machen. Haben die sich eventuell geschadet durch ihr Verhalten?

Kepplinger: Also, ich glaube, dass die ein oder andere Zeitung sich durch ihr Verhalten etwas ... ich will nicht sagen, geschadet, aber dass sie sich durch ihr Verhalten ein gewisses Renommee eingebüßt haben.

Kassel: 84 Prozent der Bundesbürger sagen zurzeit, dass sie Christian Wulff für nicht glaubwürdig halten. Das schreibt die "Bild"-Zeitung auch heute wieder unter diesen Artikel. Die anderen Zahlen nennt sie nicht, denn interessant ist: Diejenigen, die daraus aber schließen, dann darf er auch nicht Präsident bleiben, das sind viel, viel weniger. Wie erklären Sie sich das?

Kepplinger: Das ist, finde ich, ein hoch interessanter Befund, der frühere Studien, die wir gemacht haben, wirklich wunderbar bestätigt, nämlich: Wenn es um die Glaubwürdigkeit von Wulff geht, beten die Menschen das nach, was sie immer wieder in den Zeitungen zu Recht oder zu Unrecht lesen.

Es wird immer wieder behauptet, Wulff ist unglaubwürdig, also übernehmen die Menschen diese verbale Botschaft. Aber die Zustimmung oder Ablehnung einer Person beruht letzten Endes nicht darauf, sondern beruht im Wesentlichen auf nonverbalen Eindrücken, auf Verhalten, auf Sprechweise. Und diese nonverbalen Erkenntnisse, die der Mensch aus Fernsehauftritten, aus Bildern sieht, die sind relativ unabhängig von solchen verbalen Botschaften.

Deshalb mögen die Leute Wulff nach wie vor, weil er sich in einer Weise benimmt ... Man kennt das Bild des lieben Schwiegersohnes: Er benimmt sich so, wie die Menschen das gerne haben. Und davon unberührt, weitgehend unberührt bleibt der Vorwurf, dass er unglaubwürdig ist. Wir haben ja andere Politiker, die eine ähnliche – auf eine ganz andere Weise –, eine ähnliche Ausstrahlung haben, also etwa Gerhard Schröder, dem etwa der Skandal um seinen Wechsel in eine russische Firma, den Aufsichtsrat einer russischen Firma praktisch überhaupt nicht geschadet hat. Das hängt an dem nonverbalen Auftritt der Person, die einfach den Menschen gefällt.

Kassel: Heißt das in Bezug auf Christian Wulff, dass Sie es sogar für vorstellbar halten, dass uns da eine zweite Amtszeit ins Haus steht?

Kepplinger: Das halte ich für nahezu ausgeschlossen, weil er ... Wenn er die Chance hat, seinen Ruf wiederherzustellen, dann wird er das Risiko nicht eingehen, ihn erneut infrage zu stellen. Nein, ich glaube, er wird sein Hauptziel haben, diese Amtszeit einigermaßen in Ehren zu beenden.

Kassel: Der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger über die Affäre Wulff und die Folgen, die sie hat oder auch nicht. Professor Kepplinger, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Kepplinger: Ja, bitte sehr!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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