Nicht herzlich, sondern sorgfältig

10.05.2012
Die junge finnische Autorin Riika Pulkkinen, die 2006 ein gefeiertes Debüt vorlegte, liebt die großen Themen Liebe und Tod: Ihr neuer Roman handelt von einer gutbürgerlichen Familie, in welcher der nahe Tod der Matriarchin ein verdrängtes Geheimnis zutage fördert.
Wir lernen das gepflegte Bürgertum Helsinkis kennen, eine erfolgreiche und angesehene Familie: die 70jährige Elsa, eine immer noch gefeierte Kinderpsychologin; ihren Mann Martti, einen bekannten Maler; ihre Tochter Eleonoora, eine Ärztin; und deren Töchter, die etwas zögerliche Anna und die resolute Maria.

Alles scheint im Lot, nur die traurige Diagnose, dass Elsas Krebserkrankung leider unheilbar ist, wirft einen Schatten auf die gut funktionierende Familie aus der Hauptstadt. Aber selbst diese Situation wird verantwortungsvoll und human gemanagt. Elsa entschließt sich, ihre letzten Lebenswochen zu Hause zu verbringen, und die Familie wechselt sich in der Pflege ab, sogar die beiden Enkelinnen sind bereit, die Großmutter beim Sterben zu begleiten.

Wir lesen also eine Geschichte mit lauter verständnisvollen, besorgten Menschen, die sich, wie schön, trotz ihres Erfolgs ihre "Verletzlichkeit bewahrt" haben. Aber ihre Sterbebegleitung ist nicht herzlich, sondern eben sorgfältig. Geschrieben ist das zumindest anfangs in einem gleichzeitig etwas biederen und angestrengt ernsten Ton.

Es wird in dem Augenblick interessant, in dem ein Kleid auftaucht. Das Kleid gehörte einer gewissen Eeva, und die Autorin lässt Eeva ihre Geschichte, die gut 40 Jahre zurückliegt, selbst erzählen; es ist diese Binnenerzählung, die den Roman rettet. Jetzt wird nicht mehr nur behauptet, etwas sei wahr, sondern es ist "wahr", die Geschichte klingt mit einem Mal echt und sogar wirklich ergreifend.

Eeva, 22, eine Romanistikstudentin, kommt 1964 als Kindermädchen in Elsas und Marttis Haus. Wenn Elsa auf einer ihrer vielen Vortragsreisen ist, soll sie die kleine Tochter Eleonoora hüten. Eeva ist ganz vernarrt in das kleine Mädchen, bald allerdings auch in Martti. Wenn Elsa weg ist, übernimmt Eeva die Rolle der Frau des Hauses, auch im Ehebett.

Als Elsa schließlich dahinterkommt, verbietet sie Eeva jeden weiteren Kontakt. Das ist ein Problem für Martti, besonders aber für die kleine Eleonoora, denn bis dahin scheint sie sich mit ihren zwei Müttern sehr gut arrangiert zu haben. Eigentlich wird es für sie erst in dem Augenblick traumatisch, als sie Eeva nicht mehr sehen darf.

Während die Rahmenerzählung mit der sterbenden Elsa und der sorgenden Familie eher Klischee beladen ist, ist Eevas traurige Liebesgeschichte vielschichtiger und reifer, und die Personen erhalten erst durch sie Gestalt: die gefeierte Psychologin Elsa ist für die Vorgänge in ihrer nächsten Nähe blind, und der Künstler Martti schwankt zwischen sexueller Lust und ehelicher Treue. Eeva, zerrissen zwischen Selbstbehauptung und Selbstzerstörung, ist das eigentliche Opfer, ihr Schicksal wird uns noch verfolgen, wenn wir das Krebssterben der Matriarchin längst vergessen haben.


Besprochen von Peter Urban-Halle/


Riika Pulkkinen: "Wahr"
Roman. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. List Verlag, Berlin 2012, 358 Seiten, 18,00 EUR