"Nicht aufgeben" als Lebensmaxime

Von Christian Linder · 31.10.2012
Seit den 60er-Jahren bis zu seinem Freitod 1978 galt Jean Améry als einer der einflussreichsten deutschsprachigen Publizisten und Moralisten. Am 31. Oktober 1912 kam er auf die Welt.
"Er gehört einer miserablen, einer verlorenen Generation an. Bei Ausbruch des Nazismus noch viel zu jung, als dass er auch nur zu bescheidenem Ansehen hätte gelangt sein können, war er, als der Alptraum sich verzog, schon nicht mehr im Alter eines Debüttanten."

Améry sprach über sich in der dritten Person, als er 1968 rückblickend seine Flucht vor den Nationalsozialisten durch Europa beschrieb. Aber 1943 wurde er von der Gestapo erneut verhaftet und erlitt die Tortur der Konzentrationslager unter anderem in Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen.

Die Welt nach 1945 aus der Perspektive des Opfers zu beschreiben und als Lebensmaxime ein trotziges "Nicht aufgeben" zu formulieren und an den Prinzipien der klassischen Aufklärung festzuhalten - darin bestand Jean Amérys Arbeit in dem als Schreib- und Wohnort beibehaltenen Brüssel.

Jean Améry: "Zusammen mit der Skepsis ist der menschenfreundliche Optimismus der Aufklärung mit den statischen Werten von Freiheit, Vernunft, Gerechtigkeit, Wahrheit unsere einzige Chance, Geschichte zu machen und mit ihr das eigentlich humane Geschäft, die Sinngebung des Sinnlosen, zu betreiben."

Alle Bücher Amérys - von »Schuld und Sühne« über die »Unmeisterlichen Wanderjahre« bis zu seiner Studie »Über das Altern« oder den Roman-Essay »Lefeu oder Der Abbruch« - sind zu lesen als Bruchstücke seiner Autobiographie. Als im Deutschen Bundestag die Verjährung von nationalsozialistischen Verbrechen diskutiert wurde, meldete er sich sofort zu Wort:

"Im Grunde bitte ich die Deutschen nur um etwas Geduld. Sie sollen warten und ihre euphorische Vergebensfreudigkeit zügeln, bis der letzte von uns Betroffenen verschwunden ist. Mensch und Gegenmensch ruhen dann in der Grabesstille des Abgelegten - aber noch nicht. Noch hat das pure Zeitigen der Zeit sein Werk nicht vollbracht, es gibt Überlebende, die aufschreien, aufschluchzen."

Zur Buchmesse 1978 erreichte eine sichtlich erschütterte literarische Öffentlichkeit die Nachricht, dass Jean Améry sich am 17. Oktober in einem Salzburger Hotel durch eine Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen hatte.