New York, New York

04.09.2007
Zu viel Alkohol und Selbstmordgedanken sind Ausdruck ihrer tiefen Persönlichkeitskrise: Julia, eine jüdische Intellektuelle aus Russland, die in den 80er Jahren nach New York auswandert. Julia Belomlinskajas Roman über eine Ausfahrt und Heimkehr vereint höchst unterschiedliche Elemente: die Geschichte eines Scheiterns und sehr viel selbstironischen Humor, exzessive Rastlosigkeit und ein ernsthaftes Suchen nach Identität und Liebe.
Apfel, Huhn und Puschkin – das sind die Grundnahrungsmittel der Ich-Erzählerin dieses Romans. Zu dieser putzig anmutenden Formel zusammengeführt, ergeben sie dennoch ein erstaunlich treffsicheres Bild einer bestimmten Sozialisation in der späten Sowjetunion: etwas einseitige Ernährung und ein enormer Bildungshunger, der vor allem an den Näpfen der Literatur kräftig zuschnappte. Julia, die Ich-Erzählerin, Absolventin einer Leningrader Kunsthochschule, ist eine geradezu typische Vertreterin des russischen Intelligenzija-Milieus ihrer Zeit.

Auf solidem russischen Kulturfundament gewachsen, nimmt sie begierig westliche Einflüsse auf. Der Umstand, dass sie Jüdin ist, erleichtert ihr in den späten 80er Jahren die Ausreise aus dem brüchigen Sowjet-Imperium in die USA, nach New York, dem hauptsächlichen Handlungsort dieses Buches.

Hier trifft sie auf das merkwürdige Mikroklima, das die russisch-jüdische Emigrantenszene nach mehreren Ausreisewellen ausgebildet hat: wenige Kontakte nach außen, dafür eine intensive Beschäftigung mit sich selbst. Der Umstand, ob man in die Synagoge oder in die orthodoxe Kirche geht, entscheidet über das Ausmaß der Zuwendungen von Hilfsorganisationen, die man erhalten kann. Statt des bohemehaften Sinnierens über Gott und die Welt zählt hier einzig das Geld, das man verdient – oder eben nicht, dann bekommt das Leben zwar wieder jene altbekannte Beigabe von Boheme, aber auch den neuen Geruch nach Elend und Armut, wenn die Rechnungen fällig werden.

Julia schlägt sich in diesem Klima recht und schlecht durch. Qualen bereitet ihr aber auch ihr Liebeshunger. Sie ist bedürftig, dabei exzentrisch, tabulos, fordernd und anspruchsvoll in jeder Hinsicht. Ihre schrille und nicht wirklich erfolgreiche "Jagd" nach einem Mann oder wenigstens nach sexuellen Abenteuern unter den Dichtern und Malern der Szene in Bars und Restaurants trägt ihr einen nicht sehr schmeichelhaften Ruf ein. Als sie versucht, Liebes- oder wenigstens Sexhunger und Gelderwerb zu verbinden, landet sie in einem Sado-Maso-Club – ein Desaster. Zu viel Alkohol und Selbstmordgedanken sind Ausdruck einer tiefen Persönlichkeitskrise.

Sie beginnt, Lieder und Gedichte zu schreiben, die sie öffentlich vorträgt und liest. Ein Gebärmutterkrebs, der schließlich erfolgreich therapiert werden kann, trägt bei zu einem tieferen Nachsinnen über Leben und Liebe, Judentum und Russland, Daseinsziele und Geschlechterrollen. Julia erfindet sich gleichsam neu. Insbesondere ihre "doppelte" Identität als Jüdin, die dabei ganz und gar in der russischen Kultur wurzelt, nimmt sie nun wahr als unabdingbare Einheit: so verwoben sei das Jüdische mit der russischen Kultur (und Geschichte), dass eine Trennung beider Elemente ein geradezu absurder Gedanke sei, führt sie in einer essayistischen Passage dieses Romans aus. Diese Erkenntnis – und eine neue Liebe – bringen sie zum Entschluss, nach dreizehn Jahren des Exils nach Russland zurückzukehren.

Julia Belomlinskajas Roman über eine Ausfahrt und Heimkehr vereint – wie der Titel signalisiert – höchst unterschiedliche Elemente: die Geschichte eines Scheiterns und sehr viel selbstironischen Humor, exzessive Rastlosigkeit und ein ernsthaftes Suchen nach Identität und Liebe, schnelle Handlung und gründliches Nachdenken – es sind diese Kombinationen, die dem Buch eine höchst lesenswerte Spannung verleihen.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Julia Belomlinskaja: Apfel, Huhn und Puschkin, Roman
Aus dem Russischen und mit Anmerkungen von Friederike Meltendorf.
Matthes & Seitz Berlin 2007
286 Seiten, 19,80 €.