Neustart am Schauspielhaus Bochum

Fieber messen vor der Probe

05:02 Minuten
Leseprobe im Bochumer Schauspielhaus: Schauspieler und Regisseur sitzen in einem großen Kreis im Probensaal und halten wegen der Coronapandemie Abstand.
Probe im Schauspielhaus zu "Die Befristeten": Eine Szene dauert drei Minuten, die Diskussion darüber eine Stunde. © Deutschlandradio / Stefan Keim
Von Stefan Keim · 03.06.2020
Audio herunterladen
In einigen Bundesländern dürfen Theater wieder öffnen. Das Bochumer Schauspielhaus bringt sogar eine Neuproduktion auf die Bühne: "Die Befristeten" von Elias Canetti. Ein Einblick - wie Theater unter Pandemiebedingungen funktioniert.
"Jetzt, wo es losging, Montag morgen, als wir uns alle getroffen haben, sah der Probenraum aus wie bei einer Matheklausur", erzählt der Schauspieler Dominik Dos-Reis. "Wir saßen alle an diesen Tischen auf Abstand, die Textbücher lagen bereit, sogar Stifte - und ich kam mir tatsächlich ein bisschen so vor, als hätte ich gleich eine Prüfung."

Gemeinsames Nachdenken über den Text

Vier Tage nach Probenbeginn ist das immer noch so. Wer den Probenraum betritt, bekommt erst einmal von der Regieassistentin Fieber gemessen. Dann setzen sich alle an die Tische. Bei Regisseur Johan Simons ist eine Leseprobe viel mehr als eine Leseprobe. Es ist ein gemeinsames Nachdenken über das Stück. Es geht langsam voran, eine Szene dauert vielleicht drei Minuten, die Diskussion darüber knapp eine Stunde.
"Es handelt von Angst?"
"Es handelt von Angst, wir haben miteinander etwas verabredet."
Die Schauspielerin Sandra Hüller hat einmal gesagt, sie arbeite so gern mit Simons, weil sie bei ihm gar nichts falsch machen kann. Jede Aufführung ist eine neue Annäherung an das Stück, ein Reflektieren über das, was erzählt wird.
Das spürt man auch bei der Leseprobe. Alle sind hoch konzentriert, es entstehen Pausen, in denen keiner glaubt, etwas sagen zu müssen. Man kann auch einfach mal im Raum sitzen, auf Abstand und nachdenken. Dann geht es zur nächsten Szene.
"Er ist ein Lügner. Er lügt. Er lügt. Das ist nicht wahr. Das weiß niemand. Er lügt, er lügt."

Einer will nicht sterben

Das Stück "Die Befristeten" spielt in der Zukunft. Alle Menschen wissen, wie lange sie noch zu leben haben. Sie heißen 96 oder 50, an den Namen erkennt man es sofort. Wer älter wird, ist mächtiger, von Anfang an.
Einer derjenige, der 50 heißt, hat keine Lust zu sterben. Und tut es einfach nicht. Damit bringt er das System ins Wanken.
Dass so ein Stück vor dem Sommer Premiere haben könnte, scheint fast schon unglaublich. Allerdings nicht für Susanne Winnacker, die stellvertretende Intendantin des Bochumer Schauspielhauses:
"Wir wollten das glauben. Wir haben daran geglaubt, wir haben alles gemacht, was wir auch nur ahnen könnten, was von uns verlangt werden würde. Jetzt ist es so gekommen, deshalb machen wir auf."
Winnacker sitzt in ihrem Büro und erzählt von den vielen Verhandlungen, die sie geführt hat. Eine sprudelnde, temperamentvolle Frau. Eine, die kämpfen kann. Und die das Schauspielhaus nicht wieder aufmacht, um vor der Sommerpause noch ein paar Euro zu verdienen. Im Gegenteil.
"Wir sind so unendlich dankbar, dass wir jetzt endlich wieder spielen können, dass wir keinen Eintritt nehmen im Juni. Es gab so viele Spenden von Menschen, die ihre Tickets schon gekauft hatten und die uns geschrieben haben, dass sie das Geld dafür nicht zurückwollen, dass wir jetzt keinen Eintritt nehmen wollen. Außerdem wollen wir auch die Menschen unbedingt sehen, deren letzter Gedanke jetzt wäre, ob sie 30 Euro für das Theater ausgeben."

Keine Gastronomie, keine Gaderobe

Es gibt viele arme Leute im Ruhrgebiet. Durch die Pandemie hat sich die Lage verschärft. Auch für sie will das Schauspielhaus da sein. Natürlich nach den Regeln, die erst einmal für alle Bühnen gelten.
"Wir werden keine Gastronomie haben, sondern Flaschen mit Schraubverschluss, dass sich nicht fünf Leute einen Flaschenöffner teilen müssen. Wir werden keine Garderobe haben, wir werden Einlasspersonal haben, das den Leuten die Wege zeigt und vorschreibt, die sie gehen dürfen. Wir werden keine Pause haben."
Die Gemütlichkeit und Geselligkeit rund um den Theaterabend ist also minimiert. Dafür wird die Aufführung umso kommunikativer. Nur 85 Leute dürfen ins große Schauspielhaus, denn das Ensemble spielt nicht nur auf der Bühne, sagt Simons:
"Wenn das Publikum im Saal sitzt und die Schauspieler auch, dann hat man das Gefühl, dass es in diesem Moment eine Einheit ist und dass wir alle neugierig sind aufeinander, wie wir mit dieser Sache umgehen."
Doch was passiert da beim Spielen? Hemmt es nicht, wenn man ständig an die Abstandsregeln denken muss? Simons steht auf, geht ein paar Schritte weg und nähert sich wieder.
"Du bist Publikum, und ich habe einen Text und komme auf dich zu, denke dann, nein, nein, nein, das geht nicht. Ich muss immer damit rechnen, dass ich denke, nein, das ist zu dicht dran. Ich glaube, das setzt auch einige Sachen frei, der Körper muss sich im Raum einlassen auf andere Sachen."

Sehnsucht nach Nähe

Darum geht es auch im Stück. Um Distanz, Angst, Abstand – und die Sehnsucht danach, eine Gemeinschaft zu werden. Zurück im Proberaum bringt es Schauspieler Dominik Dos-Reis auf den Punkt:
"Umgemünzt auf die reale Situation bedeutet das, ich sehe einen Menschen, den ich vielleicht lange nicht mehr gesehen habe, den ich besonders gern habe, ich würde den am liebsten sofort in die Arme nehmen. Das kann ich aber nicht, weil die Maßnahmen das von mir so verlangen. Das Gefühl ist aber da, die Sehnsucht und das Heimweh danach, zu umarmen und physisch Nähe zu haben."
Mehr zum Thema