Neujahrsfest der Jesiden

Die Erschaffung der Welt aus dem Pfauen-Ei

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Ein Wandteppich zeigt den Pfauenengel. Er ist einer von insgesamt sieben Erzengeln der Jesiden.
Mit seiner Hilfe schlüpfte die Welt aus dem Ei: Ein Wandteppich im heiligen Tempel der Jesiden von Lalish im Nordirak zeigt den Pfauen-Engel Tausi Melek. © Chris McGrath / Getty Images
Von Christian Röther · 14.04.2019
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Nicht nur Christen, auch Jesiden färben derzeit Eier bunt – für ihr Neujahrsfest am Roten Mittwoch. Sie erinnern an die Erschaffung der Welt aus einem Ei. Manche meinen sogar, der Brauch der bunten Eier sei durch sie ins Christentum gekommen.
Im Anfang war das Ei. Nicht die Henne. So berichten es zumindest viele alte Schöpfungsmythen, in denen die Erde aus einem Ei geschaffen wird. So auch im Jesidentum.
"Das Ei symbolisiert die Welt. Und das Färben der Eier geht darauf zurück, dass man sagt, dass die Welt eigentlich bunt ist", erklärt Azad Onal. Er lebt in Göttingen und engagiert sich in der dortigen Gemeinde der Jesiden – bzw. der Eziden, wie sich die Gläubigen oft selbst nennen.

Die Schöpfung der Welt aus einem gefrorenen Ei

Azad Onal ist zwar nicht religiös, es ist ihm aber trotzdem wichtig, die religiösen Feste zu feiern. Wie das Neujahrsfest. Es erinnert an die Schöpfung der Welt aus einem Ei. Deshalb spielen hartgekochte und bunt bemalte Eier bei dem Fest eine wichtige Rolle, erklärt Azad Onal:
"Der eine hält das eine Ei fest, sein eigenes. Und dann kommt ein anderer und dann werden die Eier Kopf an Kopf geschlagen. Und wessen Ei natürlich kaputt geht, der muss mit diesem Ei dann rausrücken und sich ein neues Ei holen."
Diesen Brauch kennt auch der Religions- und Kulturwissenschaftler Thorsten Wettich. Er hat seiner Doktorarbeit über Jesiden in Deutschland geschrieben: "Derjenige, der bei dem Spiel verliert, hat sozusagen Unglück für das Jahr. Ist natürlich nur ein Spiel und man nimmt es nicht so ernst. Die Idee dahinter ist aber, daran zu erinnern, dass eben die gefrorene Welt, die die Form eines Eis hatte, zerbrochen ist an dem Tag. Und das Aneinanderschlagen von Eiern erinnert an das Zerbersten der Eisdecke um die Erde."

Der Engel Pfau zerbricht das Ei und lässt die Welt erblühen

Das kleine Spiel mit den Eiern symbolisiert also den Akt der Schöpfung. Am jesidischen Neujahrsfest beginnt nämlich nicht nur das neue Jahr, sondern an diesem Tag soll einst auch die Welt erschaffen worden sein, erklärt Thorsten Wettich:
"Und zwar hat Gott die Erde als ein gefrorenes Ei geschaffen der Vorstellung nach. Und hat dann seinen Erzengel, Tausi Melek, auf dieses Ei gesetzt, um es zu zerbrechen."
Tausi Melek – übersetzt heißt das: der Engel Pfau. Entsprechend wird er auch als ein Pfau dargestellt. Im jesidischen Glauben hat Tausi Melek nicht nur der Erde aus dem Ei geholfen, sondern sie auch sogleich prachtvoll erblühen lassen.
"An das Schmücken der Erde wird mit den bemalten Eiern erinnert", sagt Thorsten Wettich. "Die sollen eben daran erinnern, dass einst der Erzengel Tausi Melek die Erde für die Menschen geschmückt hat."

Am Roten Mittwoch soll man friedlich sein

Und zwar an einem Mittwoch. Deshalb wird das Neujahrsfest im Jesidentum "Carsema Sor" genannt. Aus dem Kurdischen übersetzt bedeutet das: der "Rote Mittwoch". Warum rot, dafür gibt es viele Erklärungen. Für Azad Onal ist rot ein Synonym für bunt - weil die Welt an diesem Tag bunt wurde. Für ihn persönlich ist Neujahr das wichtigste jesidische Fest. Deshalb solle man sich auch besonders friedlich und rücksichtsvoll verhalten, sagt er:
"Man darf an diesem Tag keinem Lebewesen – weder einem Baum, noch einem Strauch, noch einer Pflanze, noch einem Tier schaden – und auf keinen Fall an dem Tag darf es einen Streit geben, darf es Krieg geben, darf es irgendwelche blutigen Kämpfe geben."
Die Heiligkeit des Neujahrstages färbt sogar ab auf den gesamten Monat, fährt er fort: "Im April darf bei den Eziden keine Hochzeit gefeiert werden, weil der April heilig ist und man sagt, dass es keine schönere Braut gibt als den April."

Die bunten Eier könnten Christen und Jesiden verbinden

Im westlichen Kalender fällt das jesidische Neujahrsfest immer auf einen Mittwoch Mitte April - und damit in die Nähe des christlichen Osterfestes, bei dem ja ebenfalls hartgekochte Eier bunt bemalt werden. Könnte dieser gemeinsame Brauch eine Brücke sein zwischen dem in Deutschland noch recht unbekannten Jesidentum und seinem christlich geprägten Umfeld?
"Klar, man kann natürlich sagen, wir beide feiern jetzt ein wichtiges Fest, bei dem wir hartgekochte Eier anmalen", sagt Thorsten Wettich lachend - aber dem Religions- und Kulturwissenschaftler ist die Sache durchaus ernst. Denn unter Jesiden ist es Brauch, die bemalten Eier untereinander zu tauschen. Das könnte man erweitern, findet er:
"Das wäre natürlich anschlussfähig für den interreligiösen Dialog, zu sagen: Lass uns doch mal Eier tauschen an Ostern respektive Neujahr! Und das miteinander feiern! Man müsste natürlich bestenfalls erklären, was das damit dann auf sich hat, dass es in dem einen Fall eben ein Hinweis auf die Schöpfungsgeschichte ist, in dem anderen Fall ein Hinweis auf das Fortleben Christi."
Der Göttinger Ezide Azad Onal sieht es ähnlich: "Diese Feste können natürlich Brücken sein zwischen den Religionen, damit man sich näherkommt und irgendwelche Vorurteile dann vielleicht abwendet und ein bisschen mehr Verständnis füreinander aufbringt."

Bunte Eier gibt es schon viel länger

Beide Feste sind jahreszeitlich geprägt, mit Blumenschmuck und der Symbolik des Neuanfangs: hier die Auferstehung, dort der Jahresbeginn. So könnte man ins Gespräch kommen. Beim jesidisch-christlichen Eiertauschen könnte dann aber vermutlich auch schnell die Frage aufkommen: Wer hat's erfunden? Azad Onal meint: "Viele denken, dass die Christen das Fest von den Eziden sozusagen fast übernommen haben, weil sie vorher schon dieses Fest gefeiert haben."
Diese Frage dürfe ähnlich schwer zu klären sein wie die nach der Henne und dem Ei: Wer hat zuerst die Eier gefärbt? Im südlichen Afrika wurden verzierte Straußeneier gefunden, die 60.000 Jahre alt sind. Auch bei Ägyptern und Sumerern fanden sich solche Eier, bis zu 5.000 Jahre alt. Da war an Christentum und Jesidentum noch gar nicht zu denken.
Den Brauch erfunden haben also wohl andere. Und überhaupt: Das jesidische Neujahrsfest wären ein denkbar schlechter Tag, um über so etwas zu streiten, meint Azad Onal: "An dem Tag soll Frieden geschlossen werden. Alles, was vergangen ist, wird vergessen. Das Neue kommt. An diesem Tag blüht die Welt neu auf."
Ein Fest also, das Menschen verbinden soll – und sei es durch den gemeinsamen Brauch, hartgekochte Eier bunt zu bemalen.
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