Neues Zuhause. Geschichten vom Ankommen

"Ich denke deutsch, ich träume deutsch"

Dr. Hikmat Al-Sabty begrüßt am Rostocker Bahnhof ankommende Flüchtlinge mit einem Willkommensschild.
Dr. Hikmat Al-Sabty begrüßt am Rostocker Bahnhof ankommende Flüchtlinge mit einem Willkommensschild. © Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Von Silke Hasselmann · 30.09.2015
Weil er nicht als Kanonenfutter für Saddam Husseins Truppen enden wollte, verließ Hikmat Al-Sabty 1980 den Irak. Mittlerweile arbeitet er als Dolmetscher in Rostock und sitzt im Landesparlament von Mecklenburg-Vorpommern.
Rostock Hauptbahnhof. Angekündigt ist ein Zug aus Hamburg über Schwerin mit circa 30 arabisch sprechenden Passagieren an Bord. Eine palästinensische Familie erwartet weitere Familienmitglieder, findet sich aber nicht zurecht. Ein kleiner, sanft blickender Mann in orangefarbener Weste kann ihnen helfen - Dr. Hikmat Al-Sabty. Der Dolmetscher für Arabisch und Deutsch stammt aus dem Süden des Irak, suchte vor 35 Jahren in Deutschland selbst Asyl und sagt nun:
"Diese Fluchtsituation erinnert mich auch an meine Situation, aber nicht in dieser Masse. Ich würde sagen Exodus. Also das sind Leute, tausende und abertausende, die ihre Heimat verlassen. Ich kam 1980 her, aber da war die Situation nicht so."
Rückblende: September 1980. Die mit der kommunistischen Partei sympathisierenden Brüder Al-Sabty machen Urlaub in der Türkei, als der Krieg zwischen den Nachbarn Irak und Iran beginnt. Der damals 26-jährige Hikmat will kein Kanonenfutter für Saddam Husseins Truppen werden.

Vom Irak in die DDR

"Und wir haben gedacht, wir suchen mal einen Ort, wo wir bleiben können, und durch meinen sozialistischen Idealismus dachte ich - zwischen Irak und ehemalige DDR gab es keine Visumspflicht. Und ich kam in die DDR, aber meine DDR wollte mich nicht und hat mich in den Westen geschickt."
Dr. Hikmat Al-Sabty kam 1980 nach Deutschland, nun hilft er bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
Dr. Hikmat Al-Sabty kam 1980 nach Deutschland, nun hilft er bei der Aufnahme von Flüchtlingen.© Deutschlandradio / Silke Hasselmann
Völlig entgeistert hätten ihn die Leute von der Einreise- und Zollabfertigung am Ostberliner Flughafen Schönefeld angeschaut und erklärt, die DDR habe doch gar keine Stellen für Asylanträge. Letztlich angekommen in Göttingen, setzt Hikmat Al-Sabty sein Agrarstudium fort. In Bonn schreibt er seine Doktorarbeit, auf Deutsch. 1989 dann - die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft. Dr. Hikmat Al-Sabty fühlt sich angekommen.
Kurz nach dem Mauerfall verschlägt es ihn dann doch noch dorthin, wo eben noch die DDR existiert hat. Er folgt seiner Frau - einer deutschen Anwältin - nach Mecklenburg-Vorpommern. Seit 1993 leben sie in Rostock. Hier will er alt werden, jedenfalls "wenn die beiden Söhne ihn im Alter ertragen", lacht der 61-Jährige. Sein Lieblingsplatz bis heute: die Kröpeliner-Tor-Vorstadt.
"Das ist mein Stadtteil in Rostock. Da fühlt man sich wie eine Familie. Jeder kennt jeden, und bin ja von Natur her gewöhnt an diese Geräusche, auch an Kindergeräusche, die Autos. Ich brauche das. Ganz still und in Ruhe möchte ich nicht leben."
Sein Beruf: Dr. Al-Sabty übersetzt amtliche Dokumente, dolmetscht für Gerichte und Behörden. Er kann an den Dialekten erkennen, ob jemand ein palästinensisches, syrisches, irakisches, libysches oder ägyptisches Arabisch spricht. Ja, sagt Al-Sabty, es passiere öfter, dass jemand eine nicht ganz richtige Geschichte über Herkunft und Nationalität erzählen wolle und ihn bitte, ihn nicht zu verraten. Schwierig für Hikmat Al-Sabty, der seit 2011 für die besonders zuwanderungsfreundliche Linksfraktion im Landesparlament sitzt?
"Es ist wichtig, dass man mit den Betroffenen redet, ganz vertraulich: 'Ich bin hierher geholt worden, um das zu erkennen. Seien Sie bitte mir nicht böse, dass ich das sage, weil es meine Aufgabe ist.' Weil der Mensch, wenn er sagt: 'Gut, ich komme aus Gaza', und er gibt sich als Syrer aus - da kommt man in ein Dilemma, tatsächlich. Aber ich bin ja beeidigt und ich stehe zu meinem Wort. Ich muss eine Antwort geben. Ich kann nicht sagen: 'Na, das kann ich nicht machen.'"
Die Nabelschnur zum Irak: Hikmat Al-Sabty spielt auf seiner Laute
Die Nabelschnur zum Irak: Hikmat Al-Sabty spielt auf seiner Laute© Deutschlandradio / Silke Hasselmann

Nabelschnur zur alten Heimat

In seinem Schweriner Landtagsbüro greift Hikmat Al-Sabty zu einer arabischen Laute. Musik ist für ihn die Nabelschnur, die ihn mit der Kultur seiner ersten Heimat verbindet. Mit Musik will er auch Brücken bauen und hat mittlerweile Goethes "West-östlichen Diwan" vertont sowie arabische Liedtexte ins Deutsche übersetzt.
"Das Singen, das südirakische Singen, das ich gern auch tagtäglich singe und summe, egal wo ich bin, hört sich jammerartig an. Also meine Familie sagt, wenn ich singe: 'Du jammerst!'. Es ist tatsächlich eine Art trauriger Gesang. Das bindet mich sehr an diese Kultur. Aber nach 35 Jahren Leben in einer anderen Heimat - natürlich ändert sich auch das Denken, ändert sich auch die Mentalität. Ich denke jetzt deutsch. Ich träume auch deutsch. Und wenn ich dort wäre, bräuchte ich viel Zeit, um mich zu re-integrieren."
Gespräch mit Dr. Hikmat Al-Sabty:
Dr. Hikmat Al-Sabty (61) aus Rostock. 1980 aus dem Irak nach Deutschland geflohen. Lebt seit 25 Jahren in Mecklenburg-Vorpommern. Der promovierte Landwirt arbeitet als Übersetzer und ist Landtagsabgeordneter für Die Linke.
Fühlen Sie sich in Deutschland zu Hause?
"Ja. Ich kann JA sagen, weil: Meine Frau ist Deutsche, meine Kinder sind in Deutschland geboren und mittlerweile denke ich mehr deutsch als arabisch. Aber nichtsdestotrotz - klar: Die Kultur bleibt, die Sprache bleibt. Und ich bin ja immer gebunden an meine Musik. Ich habe immer selbst Musikinstrumente gelernt wie Geige, Akkordeon. In Deutschland habe ich gedacht: 'Mensch, der liebe Goethe, der hat doch den west-östlichen Diwan geschrieben. Das sind so wunderschöne Texte, die mich an diese orientalische Musik erinnern, und ich habe (sie) in Arabisch vertont."
Wie lange hat es gedauert in Deutschland anzukommen?
"Ich merke das, wenn die Flüchtlinge hier ankommen am Hauptbahnhof Rostock. Ich war auch einmal in dieser Situation. Aber ich bin seit 35 Jahren in Deutschland und seit 1989 bin ich deutscher Staatsbürger. Da habe ich mehr als die Hälfte meines Lebens in Deutschland verbracht und es ist natürlich die Denkweise eine andere geworden."
Hat die neue Heimat Sie verändert?
"Ja, die Pünktlichkeit. Das hat mich verändert, natürlich. Wir Araber haben Probleme mit der Pünktlichkeit. Die Genauigkeit. In Deutschland sind die Menschen sachlicher, und das kann ich auch, seit ich mich mit der Politik betraue. Bevor ich jetzt einen Sachverhalt in der Welt verbreite, brauche ich die genauen Informationen und auch die Tatsachen."
Welches ist Ihr Lieblingsort?
"Rostock hat natürlich das Wasser. Ich mag gerne auch Stadtteile wie die Kröpeliner Torvorstadt. Das ist ein Stadtteil, wo die Menschen wirklich wie eine große Familie ist."
Wollen Sie hier alt werden?
"Ja, muss ich ja. Und ich hoffe, dass meine beiden Söhne mich im fortschreitenden Alter aushalten. Ich muss Ihnen auch sagen: Ich habe viel im Irak verloren. Meine ganze Familie ist ja auf der Flucht. Die ganze Familie ist verteilt in Skandinavien, Australien, Amerika, Kanada. Ich werde hierbleiben, weil - wie sagt man? Ich habe meinen Mittelpunkt im Irak aufgegeben, verloren. Diese Verbindung habe ich verloren."