Neues Stadtquartier in Tübingen

Gemeinsam bauen und leben

570 neue Wohnungen sollen hier in Tübingen entstehen.
570 neue Wohnungen sollen hier in Tübingen entstehen. © Uschi Götz
Von Uschi Götz · 19.09.2018
Menschen mit geringem Einkommen, mit Behinderung oder Migrationshintergrund haben auf dem Wohnungsmarkt schlechte Karten. Doch dass man auch für sie attraktive und günstige Wohnungen bauen kann, zeigt ein Beispiel aus Tübingen.
Eine riesige Baugrube, die viele Meter tiefe Böschung ist mit schwarzer Folie abgedeckt. Aus diesem dunklen Loch wächst schon bald ein neues Wahrzeichen der Stadt: ein Hybridturm. Etwa 30 Meter hoch wird das siebenstöckige Gebäude am Ende sein. Von oben wird man gut auf die Dächer der etwa zwei Kilometer entfernten Tübinger Altstadt blicken können. Aus Beton wird der Sockel sein, der Rest aus Holz.
Cord Soehlke: "Und das wird glaube ich ein ganz wichtiger Punkt, weil hier die verschiedenen Linien aus der Südstadt zusammenkommen."
Reinhard Vögele: "Wir werden einen gewerblich genutzten Turm haben, als Entree in das Quartier. In den Obergeschossen Ärzte, Labors, Co-Working-Spaces."
Tübingens Baubürgermeister Cord Soehlke und Stadtplaner Reinhard Vögele erklären routiniert. Das Interesse für die Tübinger Quartiere ist groß, Stadtplaner aus ganz Europa bitten regelmäßig um Führungen. "Der Holzturm bekommt auf allen Seiten eine komplette Photovoltaikfassade", erklärt Vögele am Rande der Baugrube:
"Es ist nicht mehr so, dass man sich nur nach Süden orientiert."

570 neue Wohnungen auf einem alten Güterbahnhof

In der Verlängerung des Turms entsteht südlich der Bahnlinie in Tübingen zurzeit das neue Wohnquartier "Alter Güterbahnhof". Rund 570 Wohnungen, 40 Büros, Läden und kleine Betriebe gehören dazu. Vor allem Menschen mit geringem Einkommen sollen hier günstigen Wohnraum mieten oder sogar kaufen können.
Längst stehen alle zum Quartier gehörenden Häuser, die meisten davon allerdings noch im Rohbau. Die Tübinger Tafel wird in eines der Gebäude einziehen, eine asiatische Familie wird ein Restaurant eröffnen, in der Nachbarschaft dazu entsteht eine "gläserne" Tofuproduktion:
Soehlke: "Wir fragen unsere Stadtgesellschaft und die Leute, die am Bauen interessiert sind: Was sind denn eure Ideen? Was einen Mehrwert bringen würde für alle anderen?"
Etwa einen Kilometer lang und mehrere hundert Meter breit ist das Areal. Ein Hof auf dem Gelände besteht aus mehreren, zum Teil fünfgeschossigen Gebäuden. Sechs Höfe gibt es insgesamt, vier davon werden von Baugruppen gestaltet.
"Die alle für sich eine spannende Art und Weise haben, sich die Frage zu stellen: ´Was will ich eigentlich beitragen zu der Stadt?´ Also nicht nur nutzen, sondern, was trage ich dazu bei, dass es eine vielfältige Stadt ist`."

Das Erfolgsrezept des Tübinger Modells

Die beiden Stadtplaner gehen in Richtung Hof eins. Noch gibt es keine befestigten Straßen. Beide stehen nun am Eingang des Hauses in der Hanna-Bernheim-Str. 22. "Wir haben seit 25 Jahren eine Strategie in der Stadtentwicklung", erklärt der Baubürgermeister:
"Kann man auch als Tübinger Modell der Stadtentwicklung bezeichnen. Die hat angefangen im Französischen Viertel, Kasernenareal im Süden, ist dann aber weitergegangen auf ehemalige gewerbliche Brachflächen, alte Weberei, Mühlenviertel. Immer der Gedanke: Die Stadt kauft diese Grundstücke und die Stadt entwickelt sie dann möglichst kleinteilig."

Ein wesentlicher Akteur dabei seien Baugemeinschaften, sagt Soehlke. 51 Baugruppen hatten sich allein für ein Grundstück im Güterbahnhofs-Areal beworben, 13 Gruppen haben den Zuschlag bekommen. Alle tragen sie fantasievolle Namen, wie etwa 33/33/33 Tübingen for Starters.
"Der Name ist das Programm", sagt Gerd Kuhn, auch er steht jetzt im Treppenhaus des Hauses.
"Uns geht es darum, dass wir kleinteilige Mischungen in einem Haus praktizieren wollen. Es werden 33, ein Drittel der Menschen mit gutem Einkommen, ein Drittel mittlerer Einkommensbezieher einziehen und ein Drittel sozial orientierten Wohnraum."
Der sozial orientierte Wohnraum wurde von der Baugruppe noch einmal unterteilt, in Sozialwohnungen und Wohnraum für Flüchtlinge.
Das Französische Viertel in Tübingen
Das Tübinger Modell stößt international auf Interesse - hier das Französische Viertel.© imago/Westend61

"Integration braucht feste Räume"

Kuhn geht die Treppe des Rohbaus nach oben und bleibt im ersten Obergeschoss mitten in einem etwa 100 Quadratmeter großen, lichtdurchfluteten Raum stehen. "Das wird der Gemeinschaftsraum", sagt er. In diese großzügige Wohnung werden Ende des Jahres junge Menschen einziehen. Ein Betreuer bekommt eine Wohnung direkt daneben. Als unbegleitete Flüchtlinge sind die damals 14-, 15-jährigen Kinder vor einiger Zeit nach Deutschland gekommen:
"Uns war es wichtig, dass wir der festen Überzeugung sind: Integration braucht feste Räume. Und die Räume sollen nicht abgesondert sein, sondern sollen mitten drin sein. Integration kann gelingen, wenn man will. Unser Grundgedanke ist, dass verschiedene Lebensstilgruppen, Einkommensgruppen, die sollen zusammen leben und gemeinsam den Alltag erfahren."
Zur Baugruppe dreimal 33 gehören Lehrer, ein Architekt, ein Frisör, zwei Pastoren und Menschen mit Durchschnittseinkommen, zum Beispiel eine Krankenschwester. Zwei Drittel von ihnen werden auch in das Haus miteinziehen:
"Wir sind die Mitte der Gesellschaft. Ganz normale Tübinger Bürger, die einen Beitrag liefern wollen, oder selber hier sehr schön wohnen wollen."
"Wir wollen keine soziale Schichtung", betont Kuhn und führt weiter durch den Rohbau. Auch im zweiten Stock wird es eine Wohngemeinschaft für junge Flüchtlinge geben.
"Also im Erdgeschoss gibt es keine Sozialwohnung, keine Flüchtlingswohnung, ganz bewusst nicht. In jedem Stock gibt es eine Flüchtlingswohnung. Wir haben da ein ganz kompliziertes Modell gemacht."

Wer mehr hat, zahlt mehr

Wesentlicher Bestandteil des komplizierten Modells ist ein Sozialtransfer, das bedeutet: Wer mehr Einkommen hat, bezahlt mehr als die Leute, die ein niedriges Einkommen haben. So soll etwa die alleinerziehende Krankenschwester auch zu einer Eigentumswohnung kommen, die von der Lage nicht schlechter ist, als die des Architekten. Die Wohnungen für die Flüchtlinge werden in diesem Fall von einem sozialen Investor finanziert.
Baubürgermeister Soehlke steht mittlerweile in der Nähe des Außenhofes der 33er-Baugruppe und schaut auf eine große alte Güterhalle.
"Das wird mal der zentrale Platz sein und die Güterhalle ist das zentrale Gebäude, das einzige Gebäude aus der Historie dieses Geländes, das übrig geblieben ist."
Diskutiert wird zurzeit, ob das Kulturamt mit dem Stadtarchiv in die frühere Güterhalle einziehen kann.

Das Areal gehört der Aurelis Real Estate mit Sitz in Eschborn. Das Unternehmen ist eine Bahn-Tochter und bebaut meist in Eigenregie brachliegende, frühere Bahngelände. In Tübingen baut das Unternehmen nun gemeinsam mit der Stadt, erklärt Stadtplaner Vögele:
"Das ist das erste Quartier, wo wir versucht haben, das Tübinger Modell der Stadtentwicklung mit einem fremden Projektentwickler dann umzusetzen, auf fremden Grundstücken, das ist uns zu einem guten Stück gelungen."
Ein Teil der Grundstücke wurde deshalb von Aurelis selbst vermarktet, was sich vor allem am Preis der Wohnungen zeigt. Diese sind im Vergleich um bis zu einem Drittel teurer als gleichgroßer Wohnraum, der von Baugruppen geschaffen wurde. Wer nicht so sehr auf die Kosten schauen muss, bezahlt jedoch klaglos. Hauptsache man findet überhaupt eine Wohnung, sei es zur Miete und zum Kauf.
Ein Plakat von der Lebenshilfe hängt an einem Rohbau.
In den Neubauprojekt finden auch Menschen mit Behinderung ein neues Zuhause.© Uschi Götz

Platz für eine Demenz-WG

Eines der spannendsten Projekte entsteht gerade im Hof 6. "Plan G" steht auf einem großen Plakat, das an einem mehrgeschossigen Rohbau angebracht ist:
"Wir gehen jetzt in die Räume der nestbau, das ist eine sehr große Wohnung, die an acht dementiell erkrankte Menschen vermietet wird."
Lucia Landenberger ist Projektkoordinatorin für Baugemeinschaften und begleitet den Aufbau einer Demenz-WG. In diesem Fall ist die nestbau AG die Eigentümerin, eine Bürger-Aktiengesellschaft für nachhaltige Entwicklung von Wohnimmobilien.
"Es wird in der Wohnung einen großen Gemeinschaftsbereich geben, mit Küche, Essbereich, Wohnzimmer und dann eben acht Zimmer, ganz normale Zimmer zwölf, 13 Quadratmeter, wo die Menschen drin leben."
Das Konzept setzt voraus, dass sich Angehörige dementiell erkrankten Menschen - in welcher Form auch immer - an der Projektgestaltung beteiligen:
"Die Angehörigen müssen dann Pflegedienste voraussichtlich anfragen. Also es ist wirklich selbst organisiert, es gibt keinen Träger, keinen Betreiber, sondern das ist eine WG, wie eine Studenten-WG."
Die Türen der WG werden nicht verschlossen, das sieht das Konzept allerdings bereits vor. Im Frühjahr sollen hier die ersten Bewohner einziehen.

2020 soll das Quatier bezogen werden

Auch ein Gebäude im Nachbarhof der Demenz-WG wird verschiedenen Wohngemeinschaften Platz bieten. Hier werden Menschen mit einer Behinderung künftig in direkter Nachbarschaft mit Familien, Singles oder Rentnern leben. Dieses Haus hat die Baugemeinschaft Gleis 1 gestaltet. Die frühere Tübinger Sozialdezernentin Uta Schwarz-Österreicher ist Vorsitzende der Lebenshilfe Tübingen.
"Das heißt, private Menschen haben sich zusammengetan, um hier zu bauen. Die Grundidee war, dass ein Teil der 14 Wohnungen, nämlich sechs bis sieben Wohnungen, an die Lebenshilfe vermietet werden, um Menschen mit Behinderung ein selbständiges Wohnen zu ermöglichen."
2020 soll das Quartier fertig sein, alle Häuser bis dahin bezogen. Baubürgermeister Soehlke und Stadtplaner Vögele steigen auf ihre Fahrräder. Noch ist der Weg von der Baustelle ins Rathaus etwas umständlich. Doch das Tübinger Modell sieht auch für dieses Problem eine Lösung vor:
"Es wird eine schöne Unterführung und dann eine Brücke über den Neckar geben. Tübingen hat das große Problem, dass es ganz stark getrennt ist, in der Ost-West Richtung, es gibt wenig Brücken, wo man queren kann, und deshalb haben wir uns entschieden, ein Sonderprogramm Radbrücken zu machen, und die binden wir jetzt mit dem Güterbahnhof zusammen, so dass da eine neue Fahrradachse entsteht."
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