Neues Pulverfass in Ostafrika

Von Antje Diekhans · 28.02.2013
Anfang März werden in Kenia ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Es sind Wahlen, denen die Bevölkerung eher mit Sorge als mit Optimismus entgegensieht. Denn die Erinnerungen an den blutigen Urnengang vor fünf Jahren sind noch wach.
Das Frühprogramm von "Ghetto Radio”. Der Sender ist in ganz Nairobi zu empfangen, zielt aber vor allem auf die Jugend in den Slums. Am Mikrofon ist Eric Kioko alias DJ Talanta.

Er ruft die Kenianer auf, bei den kommenden Wahlen friedlich zu bleiben. Der 30-Jährige hat vor fünf Jahren während der Unruhen schreckliche Erfahrungen gemacht. Eins der am häufigsten abgedruckten Bilder damals zeigte eine abgehackte Hand.

"Das ist mein Arm mit meiner Uhr. Sie haben ihn mir mit einer sehr scharfen Panga abgeschlagen. Wenn sie meinen Kopf getroffen hätten, wäre mein Schädel gespalten gewesen. Nach dem Angriff bin ich weit gelaufen – wenn ich dir die Strecke zeige, wirst du es kaum glauben können."

DJ Talanta führt durch Mathare. Es ist eine dicht bebaute Armensiedlung, die in einem Talkessel liegt. Auf den meisten Wegen können zwei Leute nicht nebeneinander gehen. Nach den vergangenen Wahlen standen viele Hütten hier in Flammen. Bewaffnete Gruppen zogen umher. Sie mordeten und plünderten. Der Platz, an dem Talanta attackiert wurde, liegt am Rande des Slums.

"Ich habe eine Gruppe von etwa 17 Männern gesehen, die eine Frau vergewaltigten. Es war dunkel. Ich wollte ihr helfen, hatte aber keine Waffe dabei. Also habe ich einen Stein genommen und ihn geworfen. Dabei habe ich aber übersehen, dass einige Wache standen."

Drei Männer kamen mit Buschmessern, sogenannten Pangas, auf ihn zu. Im Reflex riss er seinen Arm hoch, um seinen Kopf zu schützen. Das rettete ihm das Leben. Mit seiner schweren Verwundung rannte Talanta dann nur noch. Seine Familie hatte sich schon in einem Flüchtlingslager neben Mathare in Sicherheit gebracht. Die Schwester konnte es nicht glauben, als ihr Bruder auf sie zutaumelte.

"Wir haben ihn nur erkannt, weil er seine Kappe aufhatte. Immer mehr Leute haben gerufen: Das ist Talanta. Als ich ihn sah, bin ich ohnmächtig geworden. Andere haben dann dafür gesorgt, dass er ins Krankenhaus kam."

Talanta überlebte nur knapp. Später musste er noch mehrere Amputationen durchmachen, weil die Wunde schlecht verheilt war. Von seinem Arm blieb ihm nur ein Stumpf. Vor dem Angriff verdiente er Geld damit, bei Feiern Musik aufzulegen. Das ist jetzt schwierig.

"Ich habe die vergangenen fünf Jahre gelitten. Erst jetzt habe ich den Besitzer von Ghetto Radio getroffen. Und er hat mir einen Job gegeben."

Jetzt kann er sich immerhin über Wasser halten. DJ Talanta ist eins der vielen Opfer der Gewalt nach den Wahlen. Insgesamt wurden etwa 1300 Menschen getötet und Hunderttausende vertrieben. Die Verletzten und die vergewaltigten Frauen zählte niemand. Alles begann mit dieser Verkündung:

"Die Wahlkommission in Kenia erklärt hiermit, dass der Kandidat, der zum Präsidenten gewählt wurde, Mwai Kibaki heißt."

Millionen Kenianer trauten ihren Ohren nicht, als Wahlleiter Samuel Kivuitu am 30. Dezember 2007 das Ergebnis der Präsidentschaftswahl bekannt gab. Bis dahin hatte Oppositionsführer Raila Odinga wie der sichere Sieger ausgesehen. Plötzlich sollte der bisherige Amtsinhaber Mwai Kibaki etwa 230.000 Stimmen mehr haben. Schon eine Stunde nach der Verkündung des offiziellen Ergebnisses ließ sich Kibaki, Hand auf der Bibel, vereidigen.

Plumpe Fälschungen

Sein Herausforderer Odinga kochte währenddessen vor Wut. Die Opposition hatte schon zuvor massenhaft Belege für Wahlfälschungen zusammengetragen. Jetzt sprach Odinga von einem zivilen Putsch und rief seine Anhänger zum Widerstand auf.

"Man fragt sich, warum Präsident Kibaki die Wahl überhaupt durchgeführt hat. Wenn er schon wusste, dass er weitermachen will, hätte er es uns sagen und mit Notstandsgesetzen regieren sollen."

Die Beweise für die meist plumpen Fälschungen waren tatsächlich erdrückend. Die USA, die Kibaki erst gratulierten, zogen ihren Glückwunsch zurück. Der Chef der EU-Wahlbeobachter, Alexander Graf Lambsdorff, fand deutliche Worte.

"Ich habe selber Formulare gesehen, die geändert worden sind hier im Gebäude der Wahlkommission in Nairobi, keiner kann einem sagen, wie die geändert worden sind, von wem die geändert worden sind, das einzige was auffällig ist: Es stammt alles aus der Zentralprovinz und ist zu Gunsten des Präsidenten gelaufen."

Das Gefühl, um den Sieg betrogen worden zu sein, brachte die Anhänger Odingas auf die Straße. Sie gehören zur Volksgruppe der Luo. Auf der anderen Seite standen die Kikuyo, die Kibaki unterstützten.

In den kommenden Wochen brannte Kenia. Vor allem in den Slums tobte der Mob.

"Nichts wird sich verbessern, wenn wir tatenlos zusehen. Es geht nicht ohne Blut vergießen."
"Wir müssen für unsere Rechte kämpfen. Auch wenn es dabei Tote gibt."

Vom Vorzeigeland zum Sorgenkind

Kenia, eigentlich das demokratische Vorzeigeland in Ostafrika, war binnen kürzester Zeit zum Sorgenkind geworden. Die internationale Gemeinschaft sah mit Entsetzen auf die Entwicklung und versuchte, die politischen Gegner zur Vernunft zu rufen.
Für alle im Land, die sich für Versöhnung einsetzten, wurde das Lied "Daima" – "Für immer" - des bekanntesten kenianischen Sängers Eric Wainaina zur Hymne gegen die Gewalt.

Er singt darüber, dass die Volksgruppen friedlich zusammen leben sollen. Nachdem der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan als Vermittler ins Land kam, erreichte diese Botschaft auch die Politiker. Kibaki und Odinga unterzeichneten einen Friedensplan und entschlossen sich, gemeinsam zu regieren. Bei der Vorstellung des neuen Kabinetts bemühte sich Präsident Kibaki, ein Signal für einen Neuanfang zu setzen.

"Lasst uns die politischen Differenzen vergessen und mit der Arbeit beginnen. Lasst uns ein neues Kenia aufbauen, mit Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit überall im Land."

Odinga wurde Ministerpräsident. Die einstigen Gegner zeigten sich demonstrativ Seite an Seite. Oberflächlich betrachtet fand Kenia zurück zur Normalität. Die Touristen kamen bald wieder für Strandurlaub und Safaris. Straßenbauprojekte wurden vorangetrieben und die Regierung arbeitete an einer neuen Verfassung. Doch unter der Oberfläche brodelt es bis heute weiter. Keiner der Täter ist zur Rechenschaft gezogen worden. Kenia schaffte es nicht, ein eigenes Tribunal einzurichten. Die mutmaßlichen Drahtzieher erwartet ein Prozess vor dem internationalen Strafgerichtshof. Verantworten soll sich in Den Haag unter anderen Uhuru Kenyatta, ein Kikuyo und Sohn des ersten Präsidenten. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Das Brisante: Kenyatta tritt jetzt mit guten Aussichten bei der Präsidentschaftswahl an. Alle Vorwürfe gegen ihn bügelt er mit dem immer gleichen Mantra ab.

"Wir müssen alle akzeptieren, dass jemand als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist. Wenn das Gericht sein Urteil fällt, muss das Volk wissen, wie es mit der Entscheidung umgeht."

Der stärkste unter den übrigen Kandidaten ist wiederum Raila Odinga. Die Konstellation ist damit ähnlich wie bei der vergangenen Abstimmung. Ein Luo gegen einen Kikuyo. Doch ansonsten soll alles anders laufen, sagt der jetzige Leiter der Wahlkommission, Issack Hassan.

"Wir haben dafür gesorgt, das alles funktioniert. Unsere Wahlhelfer sind gut ausgebildet worden. Jetzt müssen sich nur die Kandidaten an die Regeln halten und sich fair zeigen."

Insgesamt gibt es acht Präsidentschaftsanwärter. Erstmals präsentierten sie sich in einer Debatte im Fernsehen.

Das Ereignis wurde von allen kenianischen TV-Sendern und im Radio übertragen. Die gegenseitigen Angriffe unter den Kandidaten blieben sehr im Rahmen. Raila Odinga ging sogar zwischenzeitlich auf Schmusekurs mit seinem Kontrahenten.

"Ich stimme meinem Bruder Uhuru Kenyatta völlig zu. Wir haben keine persönlichen Differenzen. Im Gegenteil: Wir sind die besten Freunde."

Warme Worte, die aber sowohl Odinga als auch seine Anhänger schnell vergessen könnten, sollte Kenyatta bei der Stimmauszählung in Führung gehen. Diesmal soll es allerdings keinen Betrug geben. Die Wähler wurden elektronisch registriert, erklärt der Leiter der Wahlkommission.

"Ein Hauptmerkmal des Systems ist, dass es sofort feststellt, wenn jemand doppelt abstimmen will. Wir haben ein Foto und den Fingerabdruck jedes Wählers gespeichert. Also versucht gar nicht erst zu betrügen. Das ist gegen das Gesetz."

Obamas Appell

Etwa 1000 nationale und internationale Beobachter werden den Wahlprozess verfolgen. Ein besonders eindringlicher Appell, sich friedlich zu verhalten, kam von US-Präsident Barack Obama, dessen Vater aus Kenia stammt.

"Wir alle wissen, was erfolgreiche Wahlen ausmacht. Kenia muss sich gegen Einschüchterungen und Gewalt stellen. Die Abstimmung muss fair und frei sein. Die Kenianer sollten ihre Meinungsverschiedenheiten vor Gericht austragen, nicht auf der Straße. Aber das wichtigste ist, dass alle Kenianer vor und nach den Wahlen zusammenhalten, um das Land weiter aufzubauen."

Auch die meisten Kenianer wünschen sich eine friedliche Abstimmung. Studenten, die sich "Peace" auf die Stirn geschrieben haben, ziehen in kleinen Gruppen durch Nairobi. Als die Kandidaten sich gemeinsam auf einer Wahlkampfveranstaltung zeigten, jubelten ihnen Tausende zu.

Doch genauso wie die Aufrufe zum Frieden häufen sich auch die Anzeichen, dass die Unruhestifter wieder mobil machen. Pangas und andere Waffen sind auf einigen Märkten ausverkauft. Ein junger Mann in Mathare, dem Armenviertel, in dem auch DJ Talanta lebt, gibt zu, dass er sich gegen ein Taschengeld für Gewalttaten anheuern lässt.

"Meistens kriegen wir Geld dafür, dass wir Unruhe stiften. Oder gegen andere Gruppen kämpfen. Manchmal sollen wir auch Leute kidnappen oder ihren Besitz zerstören."

"Für einen Mord kriegen wir nicht viel, etwa 500 Shilling."

Umgerechnet sind das nicht mal fünf Euro. Die Geldgeber und Drahtzieher fürchten keine Konsequenzen – schließlich sind sie auch nach den Unruhen vor fünf Jahren nicht belangt worden. Bei ihnen nützen alle Appelle nichts.

DJ Talanta und seine Kollegen bei "Ghetto Radio" senden jeden Tag Spezialprogramme vor der Wahl. Der Reggae-Fan will dabei trotz aller Ernsthaftigkeit auch gute Laune rüberbringen. Nach seinen schrecklichen Erlebnissen hat der 30-Jährige gerade wieder Fuß gefasst. Das Radio ist seine Chance, sich ein neues Leben aufzubauen. Er kann endlich mit allem abschließen und hat den Tätern von damals verziehen, sagt er.

"Ich will diesen Hass unter den Volksgruppen nicht in mein Herz lassen. Mein Programm nenne ich Amani, das bedeutet Frieden."

Den Zuhörern macht Talanta deutlich, was auf dem Spiel steht, wenn es wieder zu Gewalt kommt.

"Ich sage den Leuten: Wenn du noch nie von einer Panga verletzt wurdest, kennst du den Schmerz nicht. Wer zur Waffe greift, muss damit rechnen, dass auch er selbst oder seine Kinder sterben könnten."

Die Aufrüstung, die er in den vergangenen Wochen in Mathare beobachtet hat, macht dem DJ Sorgen. Aber noch hat er Hoffnung, dass die Hütten nicht wieder brennen und dass die Waffen nicht zum Einsatz kommen.

"Ich würde sagen, es steht 50:50, ob wir Krieg oder Frieden erleben. Wenn es Gewalt gibt, leiden doch wieder nur die Menschen in den Slums. Die Politiker in diesem Land werden niemals leiden."
Blick auf den Hafen der kenianischen Stadt Mombasa
Blick auf den Hafen der kenianischen Stadt Mombasa© picture alliance / dpa / Andreas Gebert
Kinder stehen vor zwei Gebäuden im Slumviertel Korogocho in Nairobi, Kenia, welches direkt an die Mülldeponie Dandora grenzt.
Armut in Nairobi© picture alliance / dpa / Eva Krafczyk
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