Neues Museum für moderne Kunst in Istanbul

In die Nachbarschaft geklotzt

Von Christian Buttkereit · 12.09.2019
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Das neue Arter-Museum in Istanbul steht in einer bisher wenig beachteten Gegend. Das monumentale Bauwerk, von einer Industriellenfamilie gebaut, strahlt auf die einfachen Häuser ab - und sorgt für Sicherheit und Sauberkeit, aber auch für Gentrifizierung.
Wenn man vom zentralen Taksim-Platz hinunterläuft in das ärmliche Arbeiterviertel Dolapdere, wirkt das neue Museum für moderne Kunst wie ein Fremdkörper. Das Team um den Londoner Architekten Nicholas Grimshaw hat die 70 Meter breiten und 40 Meter hohen Kuben in eine Nachbarschaft aus kleinen Werkstätten und baufälligen zwei- bis dreistöckigen Wohnhäusern geklotzt.
Dieser Kontrast sei einerseits gewollt, müsse andererseits aber kein Gegensatz sein, meint der Gründungsdirektor des neuen Arter-Museums, Melih Fereli. Schließlich würde die Nachbarschaft eingebunden, auch wenn sie bisher keinen Zugang zur Kunst gehabt habe:
"Als wir mit dem Bau dieses Gebäudes begannen, habe ich fast alle Bewohner dieses Viertels besucht. Ich habe ihnen unser Projekt erklärt, habe ihnen meine E-Mailadresse, meine persönliche Telefonnummer gegeben, damit sie mich kontaktieren können, sei es wegen irgendwelcher Probleme oder Baulärm. Und ich kann Ihnen sagen: Die Leute haben mich angerufen und mir gesagt, ja, es gibt Baulärm, aber wir können es kaum abwarten, bis dieses Ding hier anläuft. Das hat mir wirklich eine Gänsehaut bereitet."

Viele Werke aus der Sammlung der Familie Koc

Was die Besucher aus nah und fern in den großzügigen Ausstellungsräumen zu sehen bekommen, stammt zum Teil aus der 1350 Werke umfassenden Privatsammlung der Industriellenfamilie Koc, die das Arter Museum gebaut hat und betreibt. Hinzu kommen temporäre Ausstellungen. Zu den Publikumsmagneten dürften die durch den Außenwind gesteuerten selbstfahrenden Klaviere im Untergeschoss gehören – aber auch Installationen mit künstlerisch gemixten Soundelementen aus der unmittelbaren Nachbarschaft des Museums.
Zu den ersten Besuchern gehören noch vor der offiziellen Eröffnung Kunstfreunde aus Nürnberg. Das dortige Neue Museum hat bereits mit dem alten, viel kleineren Arter in Istanbul kooperiert. Die Leiterin des Neuen Museums Nürnberg, Eva Kraus, ist vom neuen Arter tief beeindruckt.
Natürlich suchen die deutschen Besucher nach politischen Botschaften. Lehnt sich Arter auf gegen Erdogan? Schließlich gilt die Unternehmerdynastie Koc als säkular und Erdogan-kritisch – auch wenn sie selbst in zahlreichen Bereichen Geschäfte mit dem Staat macht. Wie steht es aktuell um die Freiheit der Kunst in der Türkei? Mischt der Staat sich ein oder üben Künstler Selbstzensur? Fragen, die Arter-Kurator Emre Baykal vor allem von ausländischen Journalisten kennt:
"Wir als Institution haben schon immer sehr freiheitlich arbeiten können. Und erst gar nicht kommt es in Frage, Ausstellungen mit staatlichen Stellen abzusprechen – niemals. Wenn Sie mich aber fragen, ob in der Türkei angesichts des gegenwärtigen politischen Klimas sich alle vollkommen frei fühlen, muss ich verneinen. Das wäre gelogen."

Blick auf einfache Häuser und Werkstätten

Geht man durch die sieben Ausstellungsebenen, fällt der Blick nicht nur auf die ausgestellten Bilder und Installationen, sondern auch immer wieder durch die großen Fensterflächen auf die einfachen Häuser der Nachbarschaft. In der umgekehrten Perspektive – vom Wohnzimmerfenster der Anwohnerin aus – wirkt der neue Kunsttempel wie ein großer, aber freundlicher Alien.
Gründungsdirektor Fereli habe sich bei ihr nie blicken lassen, sagt Emine Türker, die bereits seit mehr als 40 Jahren in dem Haus wohnt. Und trotzdem:
"Ich bin zufrieden. Unser Viertel wirkt sauberer und aufgeräumter. Vorher gab es hier viel Kleinkriminalität und so – das schwindet allmählich. Wir leben schon so lange hier und wissen daher sehr genau, wie es früher war. Unser Viertel ist schöner geworden."
Dass mit dem Arter voraussichtlich eine Gentrifizierung einhergeht, sieht sie als Eigentümerin eher positiv. Ihre Tochter Saliha Cetin ist allerdings enttäuscht:
"Ich habe Architektur und Restaurierung studiert. Ich hatte mir eigentlich einen Job erhofft und mich beworben. Man hat mir allerdings gesagt, dass man kein Personal aus der Nachbarschaft beschäftigen wolle. Es sind offenbar doch zwei Welten – Arter und wir. Vielleicht liegt es ja an meinem Kopftuch."
Sollte das so sein, hätten die Macher von Arter eine Chance vertan, eine Brücke zu schlagen – nicht nur zur Nachbarschaft, sondern auch über den tiefen Spalt innerhalb der türkischen Gesellschaft.
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