Neues Album von Primal Scream

"Ich verwandle Chaos in Kunst"

Der Sänger Bobby Gillespie der schottische Band Primal Scream, aufgenommen beim Berlin Festival 2011
Der Sänger Bobby Gillespie der schottische Band Primal Scream, aufgenommen beim Berlin Festival 2011 © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Von Marcel Anders · 18.03.2016
Die Musik der britischen Rock-Band Primal Scream liefere den perfekten Soundtrack zum Konsumieren von Drogen, meint Schriftsteller Irvine Welsch. Mit "Chaosmosis" legen die Junkie-Rocker nun ihr 11. Album vor. Zeit für ein Gespräch mit Mastermind Bobby Gillespie.
"Ich dachte, ich spiele bei den Sex Pistols! Also: Wir sind die neuen Sex Pistols. Denn wir bekamen viel Aufmerksamkeit, aber uns schlug auch geballter Hass entgegen. Was sich großartig anfühlte. Es war das reinste Chaos. Und ich hatte eine tolle Zeit mit den Jungs. Sie waren die beste Band der Welt – und ich war ihr Drummer."
Mit den Gebrüdern Reid wurde Bobby Gillespie zum Helden der britischen Indie-Szene. Was er nutzte, um mit Primal Scream seine eigene Band zu starten, die seit 34 Jahren in der Schnittstelle zwischen Rock´n´Roll und Acid House operiert, Meilensteine wie das 91er "Screamadelica", aber auch kapitale Flops erschaffen hat, und harte Drogen konsumierte, als handle es sich dabei um Süßigkeiten.

"Viel Einsamkeit, viel verlorene Zeit"

Legendär ist die Diskussion der Band vor verdutzten Journalisten, ob man lieber Vietnamesisch, Chinesisch oder Afghanisch bestellen solle. Womit man kein Fastfood, sondern Heroin meinte. Das, so Gillespie, hätte sich erst 2005 geändert – nach Hochzeit, Kindern und Therapie:
"Es ist eine schmerzhafte Erfahrung, die mit viel Einsamkeit und verlorener Zeit einhergeht. Vor allem, wenn du dich eigentlich nur nach Liebe sehnst. Das ist das, was jeder will – auch wenn er noch so cool tut und es nicht zugeben will. Und ich habe mit dieser Destruktivität und diesem Nihilismus so etwas wie psychische Selbstverletzung betrieben. Was sich in bleibenden Schäden niederschlägt."
Gillespie hat Probleme beim Sprechen und verliert öfter den Faden. Die Spätfolgen von Eskapaden, die den Sohn eines schottischen Labour Party-Politikers zu einem jüngeren Keith Richards machen – aber ihm auch den Respekt vieler berühmter Kollegen verschaffen: Robert Plant hat auf den letzten beiden Primal Scream-Alben gesungen, Steve Van Zandt bucht ihre US-Konzerte, Queens Of The Stone Age holen sich bei ihnen Baby-Tipps, David Bowie hat sie für seine letzte Welttournee als Vorprogramm gebucht und auch deutsche Krautrock-Ikonen suchen Gillespies Nähe.
"Ich habe letzte Nacht mit Irmin Schmidt von Can abgehangen. Für mich sind sie die europäischen Velvet Underground, also was ihren Einfluss betrifft. Sie waren nie richtig berühmt, hatten nie große Hits, aber haben trotzdem viele Leute beeinflusst. Deshalb sind sie genau so nachhaltig wie die Velvets. Eben mit ihrer Version von alternativer Rock-Musik. Und Irmin ist ein großartiger Kerl. Es war eine Ehre, sich mit ihm zu unterhalten."

Bausteine, die immer wieder neu zusammengesetzt werden

Mit den Krautrockern der 70er haben Primal Scream mehr gemeinsam, als ihnen vielleicht bewusst ist: Auch sie sind eigenwillig, exzentrisch und idealistisch. Auf "Chaosmosis" zitieren sie die Rock- und Popkultur der letzten 50 Jahre – und sich selbst: Hier ein bisschen Acid House und Rave, da Synthie-Pop, Stones-Geschrammel, ein kräftiger Schuss R&B und Soul und auch mal ein knarziger Blues.
Bausteine, die sie immer wieder neu zusammensetzen, von Gästen wie Haim, der Schauspielerin Sky Ferreira und dem schwedischen Produzenten Björn Yttling unterstützt werden und ihren ureigenen Klangkosmos kultivieren.
"Es ist ein merkwürdiges Album. Aber gerade das macht es so interessant. Einfach, weil es kein Rock ist. Obwohl: Als wir es vor zwei Wochen live im Proberaum gespielt haben, klang es sehr rockig. Also sobald sich die Band daran macht, explodiert es geradezu. Meinst du, es handelt sich eher um Pop?"
Gillespie sitzt gerne zwischen den Stühlen – einfach, um sich den üblichen Schubladen zu entziehen, ein bisschen Verwirrung zu stiften und den Konsumenten zum Nachdenken zu bringen. Ein Ansatz, dem auch die Texte folgen, die zunächst kryptisch und komplex anmuten, hinter denen sich aber seine Sicht des 21. Jahrhunderts verbirgt: Turbokapitalismus, wachsendes Arm/Reich-Gefälle, Technik-Wahn, soziale Vereinsamung und multimedialer Overkill. Kein schöne, heile Welt - eher die unbequeme, nackte Wahrheit.
"Wir werden mit so viel Daten und Informationen konfrontiert, die wir über Mobiltelefone, Fernsehen, Radio, Tageszeitungen und Magazine wahrnehmen und die meist völlig nutzlos sind. Sie sind Sinnbild unseres täglichen Lebens, das unsere Gehirne hoffnungslos überfordert. Deshalb versuche ich, etwas Schönes aus dem ganzen Müll zu schaffen. Und 'Chaosmosis' ist ein cooles Wort, das den Ansatz auf den Punkt bringt. Denn die Texte sind depressiver Realismus - aber zu ekstatischen Klängen. Ich verwandle Chaos in Kunst. Darum geht es auf dem Album."

Ein hellwacher Geist hinter der kreidebleichen Fassade

Wenn man sich länger mit Gillespie unterhält, merkt man, wie reflektiert und wortgewandt er ist. Hinter der kreidebleichen Fassade des welken Rock´n´Rollers, der eindeutig mehr Sonne vertragen könnte, verbirgt sich ein hellwacher Geist, der sich für Musikgeschichte, Literatur, Malerei und Politik interessiert. Der viele Bücher liest und Filme sieht, und bei allem Erfolg als Rockstar nie seine Wurzeln vergisst. So ist er – wie sein Vater - ein stolzer Vertreter der Arbeiterklasse, wettert gegen das Königshaus, die Tories und David Camerons EU-Referendum, das er als kurzsichtig und dumm bezeichnet. Da hat er mehr Durchblick als viele Medien und Volksvertreter.
"Ich komme aus einem anderen Teil der Welt - dem Westen von Schottland, wo die Leute viel offener und sozialdemokratischer sind. Wo man sich glücklich schätzt, Europäer zu sein. Der Süden von England hängt dagegen immer noch der Idee des Empires nach und wünscht sich den Kolonialismus zurück. Die halten sich nach wie vor für die Herren der Welt. Dabei sind sie in erster Linie Rassisten. Und bei den Konservativen gibt es einen rechten Flügel, der besonders übel ist."
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