Neues Album von Neneh Cherry

Ein Ausflug ins nackte Elend

Neneh Cherry am 16. August 2018 beim Pop-Kultur Festival im Berliner Kesselhaus
"Das Album ist ein Versuch, alles, was hier passiert, zu begreifen", sagt Neneh Cherry. © Wolfgang Tillmans
Von Marcel Anders · 18.10.2018
In den 90ern ist Neneh Cherry von Erfolg zu Erfolg geeilt. Bis sie das Interesse an der Musikindustrie verlor – und sich fast 18 Jahre ausklinkte. Heute macht sie nur noch Alben, wenn sie etwas zu sagen hat. Nun ist es wieder so weit: Ihr neues Werk heißt „Broken Politics“.
"Das Album ist der Versuch, alles, was hier passiert, zu begreifen. Wobei ich keine Lösung habe – auch, wenn es die eigentlich geben muss. Also wenn wir lernen würden, einander zuzuhören und ein besseres Bewusstsein zu entwickeln. Die Songs sind im Grunde Dialoge, die ich mit mir selbst führe - im Rahmen eines kreativen Prozesses. Denn viele Dinge werden einem klar, wenn man sie zu verstehen versucht."
Neneh Cherry ist eine engagierte Frau. Nicht so sehr was ihre Musikerkarriere betrifft, die zwischenzeitlich komplett auf Eis lag - aber als Aktivistin in Sachen Umweltschutz und Humanitäres. Da hat sie viele Fragen und Zweifel, spürt Wut und Unzufriedenheit, die sie nicht kompensieren kann – und für die sie ein Ventil braucht. Wie die zwölf Songs ihres fünften Albums, auf dem sie persönliche Eindrücke und Erlebnisse verarbeitet.
"Ein Freund von mir hat die Gemeinschaftsküche für Flüchtlinge in Calais geleitet, die täglich 1800 Menschen bekocht hat. Ich habe da als Freiwillige mitgeholfen. Und am vierten und letzten Tag bin ich raus mit dem Team, das das Essen in diesem Dschungel aus Matsche und Blechhütten ausgibt. Es tat unglaublich weh, das zu sehen. Aber ich habe auch den Überlebensinstinkt dieser Menschen gespürt, die nicht aufgeben. Ich habe so viel Schönheit gesehen. Zwar auch traurige Augen, aber viel Lächeln und Hoffnung. Danach habe ich eine Stunde geweint. Eben weil ich mich gefragt habe: ´Was passiert mit diesen Menschen?´"

"Ich habe eine Stunde geweint"

Ein Ausflug ins nackte Elend – mitten in Europa, direkt vor unserer Haustür. Ein unhaltbarer Zustand, so Neneh Cherry. Und einer von vielen Missständen, die sie auf "Broken Politics" anprangert. Gleich neben Brexit, Wutbürgern, globalem Rechtsruck, mangelnder Empathie und unfähigen Politiker. Deren Kurzsicht, Machtgier und Selbstsucht – so Neneh Cherry – sei die Wurzel allen Übels.
Neneh Cherry beim Jazz-Festival in San Sebastian 2012 auf der Bühne.
Neneh Cherry: "Ich habe keine Lösung - auch wenn es die eigentlich geben muss"© dpa/picture alliance/Javier Etxezarreta
"Ich denke, unsere heutigen Probleme sind definitiv das Ergebnis falscher Politik. Einer Politik, die nicht aufgegangen ist. Und es ist egal, wohin ich schaue: Ich habe nicht das Gefühl, dass die Verantwortlichen auch nur irgendetwas tun, wovon die Menschheit profitieren könnte. Diese Leute lügen, machen sich die Taschen voll und ruinieren die Welt. Es sind finstere Zeiten."
Solche grüblerischen, tiefgründigen Gedanken verlangen nach einer entsprechenden musikalischen Umsetzung – nach etwas, das die Texte untermalt und untermauert. In diesem Fall ein Mix aus Big Beats, Dub und Worldbeat. Mit Jazz-Samples, Klavier, asiatischen Flöten, karibischen Trommeln, vielen ruhigen Passagen und einer düster-morbiden Grundstimmung. Das Ergebnis ist bildlich, eindringlich, fast cineastisch.

Bildlich, eindringlich, fast cineastisch

"Ich denke, 'cineastisch' trifft es sehr gut. Denn das Ganze ist sehr anschaulich. Ich bin froh, dass Kieran Hebden alias Four Tet wieder mit mir arbeiten wollte. Wir haben schon ein Jahr im Voraus darüber geredet. Wobei er meinte: "Was schwebt dir vor?" Und ich: "Ich denke, ich will etwas mit mehr Seele." Sprich: Einen Geisteszustand, in dem ich weniger denke, sondern einfach nur Energie ablasse – eine Art Bewusstseinsstrom."
Ein sogenannter Stream Of Consciousness, den Neneh Cherry in Woodstock und Bristol aufgenommen hat – und beim Stück "Kong" von einem guten alten Bekannten unterstützt wird: Robert Del Naja alias 3D. Das Mastermind von Massive Attack, dessen Karriere Neneh Cherry einst finanziert und protegiert hat.
"Es war wie früher. Und es ist toll, dass wir noch so einen Draht zueinander haben. Wir sind Freunde, wie eine Familie. Und manchmal sieht man sich über längere Zeit nicht, aber sobald man wieder zusammenkommt, ist es, als ob man sich nie aus den Augen verloren hätte."
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