Neuer ver.di-Chef, alte Probleme

Die Gewerkschaften müssen sich neu erfinden

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Eine Angestellte auf einem Streik, sie steht in einer Menschenmenge auf einer Kundgebung der Gewerkschaft "verdi" in Hamburg und schwenkt eine Fahne und hält eine rote Knatter Rätsche in die Luft.
Kann immer weniger Gewerkschaftsmitglieder auf die Straße bringen: Die Mitgliederzahl von ver.di sinkt. © imago / Jonas Walzberg
Ein Kommentar von Pascal Beucker · 24.09.2019
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18 Jahre lang leitete Frank Bsirske die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Nun übernimmt Frank Werneke den Vorsitz. Die Probleme der Gewerkschaft – allem voran der Mitgliederschwund – bleiben aber die alten.
Der Bundespräsident wurde geradezu melancholisch. "Frank Bsirske war ver.di und ver.di war Frank Bsirske", sagte Frank-Walter Steinmeier zur Eröffnung des ver.di-Bundeskongresses am Sonntag in Leipzig. Und sichtlich ergriffen fügte er hinzu: "Wie gut, dass es Frank Bsirske gibt." Es ist der Abschied von Deutschlands dienstältestem Gewerkschaftschef. Er hinterlässt eine Gewerkschaft, die sich neu erfinden muss, um eine Zukunft zu haben.
Frank Bsirske stammt aus der ÖTV, der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. Das war die größte der fünf Einzelgewerkschaften, die sich im Jahr 2001 zu ver.di zusammengeschlossen haben. Mit der Fusion war die Hoffnung verbunden, die bereits damals in den Unternehmen deutlich spürbare Erosion des gewerkschaftlichen Organisationsgrades zu stoppen. Das ist nicht gelungen.

Viel Streikgetöse, kleinlaute Tarifabschlüsse

Bei ihrer Gründung verzeichnete ver.di noch mehr als 2,8 Millionen Mitglieder und bezeichnete sich stolz als die größte Gewerkschaft Europas. Heute sind es nur noch um die 1,9 Millionen, fast ein Drittel weniger. Diese bittere Bilanz hauptsächlich Frank Bsirske anzulasten, wäre allerdings ungerecht. Sie hat vor allem mit den Umbrüchen in der Arbeitswelt und der generell gesunkenen Bindekraft der Gewerkschaften zu tun.
Ein Portrait von Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft "ver.di". Er hebt winkend einen Arm in die Höhe.
Frank Bsirske© dpa / Britta Pedersen
Gleichwohl hätte es sicherlich nicht geschadet, wenn Bsirske die Kraft und die Bereitschaft gehabt hätte, mit überkommenen Ritualen Schluss zu machen. Es ist nicht mehr zeitgemäß, mit Forderungen in Tarifauseinandersetzungen zu gehen, an die man selbst nicht glaubt. Denn das sorgt zwangsläufig für Frustration. Trotzdem rief auch Bsisrke seine Mitglieder immer wieder mit großer Geste zu entschlossenen Streiks auf, um dann nach viel Getöse mir nichts dir nichts kleinlaut Abschlüsse durchzuwinken, die nur einen Bruchteil der ursprünglichen und vermeintlich unverzichtbaren Forderungen ausmachten.

Im Dauerzwist mit Amazon

Angehörige von mehr als tausend Berufen organisiert ver.di – von der Straßenbahnfahrerin über den Bankangestellten und den Friedhofsgärtner bis zur Journalistin. Mit dabei ist auch der riesige Bereich der prekären Beschäftigung mit und ohne Arbeitsvertrag – womit auch gleichzeitig eines der größten Probleme der Organisation beschrieben ist.
Bsirskes Nachfolger wird sich mit etlichen Baustellen herumzuschlagen haben. Das gilt nicht zuletzt für die harte Dauerauseinandersetzung mit dem Internetversandhändler Amazon. Seit rund sechs Jahren versucht ver.di nun, mit einer Strategie der Nadelstiche tarifvertraglich geschützte Einkommens- und Arbeitsbedingungen bei Amazon durchzusetzen. Immer wieder ruft die Gewerkschaft die Beschäftigten an einzelnen oder mehreren Amazon-Standorten zu temporären Streiks auf. Doch bisher hat sie nicht einmal die Aufnahme von Gesprächen durchsetzen können. Das Beispiel zeigt anschaulich, dass es eben noch nicht ausreicht, berechtigte Ansprüche zu haben, um sie auch durchsetzen zu können.

Die Gewerkschaftsbewegung in der Krise

Nicht nur ver.di, sondern die gesamte Gewerkschaftsbewegung befindet sich in einer Krise. Zur Veranschaulichung: 1990 gehörten noch mehr als elf Millionen Menschen einer DGB-Gewerkschaft an, mittlerweile sind es weniger als sechs Millionen – und das trotz steigender Beschäftigtenzahlen. Die Zahl tarifgebundener Arbeitsplätze ist in Westdeutschland seit 2001 von 71 Prozent auf 56 Prozent gesunken. Im Osten unterliegen nur noch 45 Prozent aller Arbeitsplätze einem Tarifvertrag. Die Folgen sind gravierend. Denn Arbeitnehmer ohne Tarifvertrag verdienen in der Regel spürbar weniger – und das unter schlechteren Arbeitsbedingungen.
Innerhalb des DGB gehörte der Grüne Frank Bsirske sicherlich zu den Schwergewichten. Nun übernimmt mit Frank Werneke ein rhetorisch eher blasser Sozialdemokrat das ver.di-Ruder. Um seine neue Aufgabe ist er nicht zu beneiden. Denn auch mit einem neuen ver.di-Vorsitzenden bleiben die Probleme die alten.

Pascal Beucker wurde 1966 in Düsseldorf geboren. Er ist Redakteur im Inlandsressort der "taz". Zu seinem Arbeitsbereich gehört die Beobachtung der Gewerkschaftsbewegung. Buchveröffentlichungen: "Die Beamtenrepublik. Der Staat im Würgegriff seiner Diener?" (Campus Verlag, 2004), "Die verlogene Politik. Macht um jeden Preis" (Knaur Taschenbuch Verlag, 2010), "Endstation Rücktritt!? Warum deutsche Politiker einpacken" (Bouvier Verlag, 2011).

© Anja Krüger
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